lemsieckBis zum Schluss trug sie eine stille Liebe zu den Menschen im Herzen

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) – Unsere Wege haben sich gekreuzt, als wir unabhängig voneinander herauszufinden versuchten, was es mit Martha Heuer auf sich hat, die während der Nazizeit zusammen mit ihrer Mutter Juden versteckt und ihnen damit das Leben gerettet hat. Gesehen haben wir uns flüchtig bei zwei Veranstaltungen in Bremen, ansonsten bestand unsere Verbindung über viele Jahre hinweg im Austausch von E-Mails. Anning war eine begnadete Stilistin, deren Briefe mir stets große Freude  gemacht haben.

„Was mich immer wieder beschäftigt, ist die angemessene Form des Gedenkens“, schrieb sie mir im Oktober 2017. Meine Herkunft aus Böhmen brachte es mit sich, dass wir uns eingehend über das Thema Heimat unterhielten. Sie denke darüber nach, ob sie von Liebe zu ihrer Heimat sprechen könne. An der Nordsee und an der Ostsee habe sie noch am ehesten das Gefühl, zuhause zu sein. In diesem Zusammenhang zitierte sie Tucholskys Satz „Wir haben das Recht, Deutschland zu hassen, weil wir es lieben.“ Auch in Israel gebe es jetzt viele, die gerade deshalb über ihr Land verzweifelt seien, weil sie es liebten.

„Gestern war ich in der Synagoge“, schrieb Anning im Januar 2018. Es sei um die Frage „Wo war Gott in Auschwitz?“ gegangen. „Bezeichnend fand ich, dass die Vertreter der katholischen und der evangelischen Kirche berichtet haben,  dass die Auseinandersetzung mit dem Thema in der christlichen Kirche erst sehr spät angefangen habe. „Die Korrespondenz mit Ihnen tut mir gut“, bemerkt sie am Schluss. In einem  anderen Brief schreibt sie zu Beginn: „Es besteht ja ein Grundkonsens zwischen uns, dass sich etwas ändern muss. Sie denken mehr darüber nach, was sich politisch und gesellschaftlich ändern muss. Mir ist es aber auch wichtig, über den Menschen nachzudenken und seine Fähigkeiten, sich einzufühlen, zu helfen, Mitleid zu empfinden, mutig zu sein, schöpferisch zu sein.“.

Im selben Jahr sind Anning und ich uns das erste Mal begegnet. „Lieber Herr Nelhiebel“, schrieb Sie am 22. April, „danke erst mal, dass Sie mich zu Ihrer Ehrung ins Rathaus eingeladen haben. Und wie schön, dass wir uns einmal die Hand geschüttelt haben. Danke auch für Ihren letzten Brief und Ihre vertrauensvolle Offenheit, mit der Sie von Ihren Ängsten, Ihrem Gefühl der Ungewissheit und der Sehnsucht nach Geborgenheit sprechen. Ach, das alles kenne ich nur zu gut, und es hat sich nach dem Tod meines Mannes verstärkt.“.

In einem ihrer Briefe blickt Anning zurück. „ Mein Blick auf das Zeitgeschehen und die Vergangenheit hat sich erst spät entwickelt“, schreibt sie. Während ihrer Zeit als Lehrerin in Bremen habe die Friedensbewegung dann eine große Rolle gespielt. „ Mein politisches Engagement war immer grundiert durch meine Auseinandersetzung mit der Shoa. Das hat mich auch zu vielen Reisen nach Israel geführt.“ An anderer Stelle bemerkt sie: „Sie haben sicher Recht, wenn Sie die Verantwortlichen für den Nahostkonflikt in den ‚Polstersesseln der Banken’ sitzen sehen. Aber mein Schmerz bleibt, ‚denk’ ich an Israel in der Nacht’. Es geht um das Land, in dem der ‚gerettete Rest der Menschen’ eine Heimat gefunden hat, deren Vernichtung die deutschen Nationalsozialisten geplant haben. Es tut mir weh, dass kritische Äußerungen so schnell als Ausdruck von Hass gegenüber Israel oder gar als Ausdruck von Antisemitismus bezeichnet werden..“

Im Juli 2019 erwähnt Anning ihre Krankheit. „In der letzten Zeit war mir nicht recht nach Schreiben. Heute wollte ich Ihnen sagen, wie es mit meinem Krebs aussieht. Der Arzt hat mir vorgestern eröffnet, dass sich eine neue Metastase in der Lunge gebildet hat. Vielleicht kommen ja doch noch mal bessere Zeiten für mich.“ Nach einem Klinikaufenthalt zur Rehabilitation befasste sich Anning mit den Folgen der Pandemie. „Die Abstandsregeln wegen Corona machen Sinn und sind wohl unumgänglich. Aber ich finde es auch wichtig, sich der einschneidenden Gängelung bewusst zu bleiben, ihren Sinn zu hinterfragen und zu protestieren, wenn sie zum Beispiel diskriminierend oder zum Selbstzweck werden“.

„Ich habe so eine Art Wartezeit hinter mir“, schreibt sie im September 2020. „Es geht in den Journalen und auch bei Politikern um die Klage, dass der Antisemitismus so gestiegen sei. Das Votum von Wolfgang Benz bringt es auf den Punkt: Es gibt keinen neuen Antisemitismus. Es ist immer der alte.“  Im Laufe unseres Briefwechsels sind wir zum Du übergegangen. „Ich finde es befreiend, dass Du auf die allgemeinen und nicht nur auf die an die Person gebundenen Zusammenhänge des ‚Sturms auf das Kapitol’ verweist. Ich bin Gefahr gelaufen, mich auf meinem Handy von einer News zur nächsten hetzen zu lassen und die strukturellen Hintergründe zu vergessen.“  Nach einer längeren Pause dann eine kurze Nachricht, „Ich lese gerade „Wenn du mit einem Fuß auf sieben Gänseblümchen treten kannst, ist der Frühling da. Ist in deinem Garten der Frühling da?“.  Am 9. Mai ist Anning Lehmensiek gestorben.

Foto:
©privat

Info:
Die Auszüge sind meinem Buch „Briefe zum Zeitgeschehen“ entnommen, das 2021 im Ossietzky-Verlag erschienen ist.