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Kategorie: Lust und Leben
große SynagogeDAS JÜDISCHE LOGBUCH,  Ende Oktober

Yves Kugelmann

Stockholm (Weltexpresso) - Die Frauen Irans demonstrieren auch in Woche sechs nach dem Tod der iranischen Kurdin Masha Amini unter Einsatz ihres Lebens. In Schweden gibt es eine große iranische Diaspora und Demonstration. Vor zehn Tagen Schwedens Regierung neu gebildet worden. Die Schwedendemokraten gehören ihr zwar nicht an, doch das Rekordergebnis für die ultrarechte Partei liegt vielen Schweden noch in den Knochen.

Aus dem Radio im Taxi trällert der Abba-Song «Chiquitita»: «Sag mir, was los ist / Du bist gefangen in deiner Trauer / In deinen Augen ist keine Hoffnung für die Zukunft. / Wie ich es hasse, dich so zu sehen. / Du kannst es nicht leugnen, keine Chance. / Ich kann doch sehen, dass du so traurig bist, so still.» Was kitschiges Klischee sein könnte, erhält Bedeutung durch den Kontext der Zeit. Der Ohrwurm bleibt. Der Text fliegt davon.

Die Solidaritätskundgebungen und -parolen auf Plakaten finden sich an diesem trüben Herbsttag auch in Stockholm. Der Protest der Frauen im Iran ist fast präsenter als der Krieg in der Ukraine. Die ukrainische geht unter in der gleichfarbenen Flagge Schwedens, blau-gelb. Sie hängt überall in diesem sozialistischen Land der Diversität, das genau deshalb innenpolitischen von rechts so stark unter Druck steht.

Am späten Nachmittag dann andere Texte. Texte, die bleiben. Texte, die ihrer Zeit eine neue Bedeutung geben und nicht umgekehrt. Der ungarische Autor Péter Nádas wird geehrt (vgl.https://weltexpresso.de/index.php/buecher/26820-leuchtkraft-fuer-europa) und setzt der Sprache der Aufwiegelung, der Manipulation, von Europas Populismus die feine, sanfte, versöhnliche gegenüber. Die Sprache als Zeugnis, Chronik und Verbindung von Individuum und Gesellschaft. Die Sprache auf Augenhöhe, voller Klarheit und Liebe, voll von Einblicken in die Mechanismen der Zeiten. Kürzlich wurde er 80 Jahre alt. Der ungarische Autor, der Ungarn den Spiegel vorsetzt und weiter dort lebt. Der Europa eine andere Sprache und die episch erzählte Erinnerung als Brückenschlag zur Gegenwart gegeben hat. Der große Erzähler, der Schoah, Kommunismus, Revolution erlebte, der die Mutter durch Krebs und den Vater durch Freitod früh verloren hat. Der große nüchterne, detailgenaue Erzähler. Der Erzähler des kleinen Großen, des großen Kleinen, der Zeuge durch Erleben und Beobachten.

Im neutralen Schweden, aus der neutralen Schweiz zeigt sich dann wiederum die Ambivalenz im Vergleich der Geschichten und Geschichte. Vorbei an der Synagoge und dem Mahnmal für die Schoah-Opfer mitten im Zentrum Stockholms mit Blick auf das weite Meer während des jetzt tobenden Krieges im Osten bleibt die Frage, ob Erinnerung Zukunft ändert oder zum Selbstzweck wird. Irans Frauen protestieren weiter gegen das faschistische Mullah-Regime. Sie kämpfen für die Freiheit, die westliche Politiker immer in Reden anführen. Doch was, wenn die Freiheit wirklich greifbar vor der Tür steht?

Foto:
Große Synagoge Stockholm
©de.wikipedia.org

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 21. Oktober 2022
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.