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Kategorie: Lust und Leben
rove.meDAS JÜDISCHE LOGBUCH  Mitte November

Yves Kugelmann

Paris (Weltexpresso) - Der Herbststurm vollführt an diesem milden Nachmittag einen Goldregen auf Pariser Boulevards. Die abgefallenen Blätter auf den Straßen erwachen nochmals zu neuem Leben und tanzen regelrecht auf. In einem alten Haus mitten im 8. Arrondissement befindet sich eine der originellsten und prächtigsten Kunstsammlungen, die alle Grenzen von Epochen, Genres, Themen überschreitet und in ihrer Vielfalt vereint. Sie gehört einem jüdischen Sammler.

Mit einem langjährigen Redaktor des «Figaro» steht er vor einem Gemälde, verhandelt das Motiv von Jesus mit seinen Jüngern. Es wird Anlass für eines der spannendsten Gespräche zum Verständnis der Religionen. Aus dem Stegreif. Kunst als Ausgangspunkt von Geschichte und Einordnung.

Wenige Strassen weiter zeigt die Paris Photo einen ganz anderen Bildersturm. Galerien aus aller Welt zeigen Fotografie. Die Präsentation sind eine Art Seismograph. Viel Politisches, viel Kunst, Chronik und letztlich eine Schau internationaler Fotogalerien, die den Weg zur aktuellen Krise aufzeigt und ganz anders einfängt. Nicht aus dem Moment heraus, mit umgreifender, umfassender, umsichtiger Darstellung. Was ist wahr, was ist Ästhetik, was ist Übergriff der Betrachter?

Da die spielenden Kinder auf den Straßen irgendwo in Osteuropa mit sorgenvollem Blick, die ausgebombten Häuser in der Ukraine und viele Chroniken der Zeit, dort inszenierte Kunst mit politischen Messages, Vintages aus den 1940er bis 1960er Jahren mit Motiven aus Politik, Kunst, Gesellschaft. Was ist wahr? Die Fotos, die Gemälde mit Jesus oder jenes daneben mit David und Goliath? Am Schluss werden auch die Texte Bilder, und wer sie nicht wahrnehmen will, negiert die Realität und leugnet ihre Konsequenzen. Längst ist der Sturm abgeklungen, die Blätter säumen die Strassen golden. Der Tanz ist vorüber und der Lebenshauch abgeflacht. Bald ist dieser Herbst ein drohend kalter Winter mit viel Ungewissheiten.

Foto:
©Bruno gabisso
Rove.me

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 11. November 2022
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.