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Kategorie: Lust und Leben
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Gute Werke zu verrichten ist schwer 

Kurt Nelhiebel 

Bremen (Weltexpresso) - Vor zwei Jahren hatte ich ein Tagpfauenauge zu Gast, das versehentlich in mein Arbeitszimmer geraten war. Tagelang saß es auf der Innenseite des Fensterrahmens und rührte sich nicht. Eines Tages war der Schmetterling verschwunden, bis ich ihn schließlich unter der Heizung am Fenster entdeckte. Wieder rührte er sich lange nicht. War er zu schwach geworden? Um ihn zu stärken, stellte ich eine flache Schale mit Wasser und einem Teelöffel Hönig auf den Fußboden.

 

pfauenaugeEs dauerte ein paar Tage, bis das Tagpfauenauge auf den Honigduft reagierte und sich in die Nähe der Schale getraute. Ich wartete bis zum nächsten Morgen und fand den Schmetterling  mit hochgestellten Flügeln regungslos inmitten der Schale. Hatte er sich zu viel Honigsaft einverleibt und war vor Müdigkeit im Stehen eingeschlafen? Am nächsten Tag erwartete mich ein dramatisches Bild.  Der Schmetterling war in der Schale zur Seite gekippt und mit zusammengefalteten Flügeln in dem klebrigen Honigsaft versunken. Ohne fremde Hilfe würde er sich kaum befreien können. Das war mir vom ersten Blick an bewusst.

 

Ich füllte die Schale mit Wasser auf und stellte sie ins Badezimmer. Am nächsten Morgen bewegte der Schmetterling den oberen Flügel langsam auf und ab.  Offenbar war er wieder zu Kräften gekommen und hatte das Schlimmste überstanden. Mein Herz machte einen Freudensprung. Ich stellte die Schale wieder auf den Fußboden sommerfliederim Arbeitszimmer und hoffte, dass sich der Schmetterling dort vollends erholen würde. Tatsächlich war er am nächsten Tag aber spurlos verschwunden.

 

Dann jedoch entdeckte ich an der roten Ziegelwand des Nachbarhauses ein Tagpfauenauge mit weit mit ausgebreiteten Flügeln in der wärmenden Sonne. War das etwa mein Gast von neulich? Ich behielt ihn im Blick und sah, wie er kurz darauf zum Sommerflieder unterhalb meines Fensters wechselte und dort seinen dünnen Saugrüssel in die duftenden Kelche der dunkelblauen Dolden versenkte. In diesem Moment war mir, als blinzle eins der strahlenden Augen auf den Flügeln in meine Richtung und ich hörte eine Stimme sagen:  Danke für den Honig, alter Freund.

Fotos:
©Verfasser