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Kategorie: Lust und Leben
proteste justizreform israel 103
Das jüdische Logbuch Mitte Mai

Yves Kugelmann

Tel Aviv, (Weltexpresso) -  Freitagabend in einem Minjan mitten im Land. Männer und Frauen singen die Nigunim – viele von Schlomo Carlebach. Ein modern-orthodoxer Minjan. Auch wenn es auf den ersten Blick anders scheint – viele von diesen Menschen mit «Kippa-Sruga», nach aussen sichtbaren Zizit und so fort werden am Mozei Schabbat auf die Strassen gehen gegen die Reform und amtierende israelische Regierung.


Israels rechtsextreme Regierung ist Teil einer weltweiten Entwicklung antiliberaler und -demokratischer Entwicklungen. Beide haben eines gemein: Sie stellen mit unterschiedlichen Vorzeichen die jüdische Frage zur Disposition. Wie jüdische und andere Minderheiten in offenen und autokratisch geführten Gesellschaften leben und überleben werden, hängt sehr stark von den aktuellen Entwicklungen in eine Richtung ab, die viele als gefährlichen Rückschritt in Zeiten der Nationalstaaten verorten, als diese noch keine modernen Verfassungen kannten, die Gerichtsbarkeit noch keine universellen Menschen- und andere Rechte kannte.

Der demokratische Reflex von Israels Bevölkerung allerdings unterscheidet sich in Vehemenz und Nachhaltigkeit von vielen anderen Manifestationen etwa in Europa. Während in Frankreich, Deutschland, Italien arbeitsrechtliche Themen die Menschen auf die Straße bringen, ist es in Israel die Frage um den Fortbestand der liberalen Demokratie. Auf Israels Straßen geht es nicht mehr um links, rechts oder alte ungelöste Konflikte, sondern um Demokratie oder nicht, Rechtsstaatlichkeit oder nicht, Kampf der Korruption. Netanyahu hat nicht mit einem jüdischen Reflex zur Demokratie gerechnet, der vielleicht in Israel mit über einer Million Ultraorthodoxen, Hunderttausenden von Siedlern, über einer Million Jüdinnen und Juden aus ehemaligen Diktaturen noch nicht mehrheitsfähig ist. Doch Wirtschaft, Akademie, Militär, große Teile der Bevölkerung inklusive ehemaliger überzeugter Netanyahu-Wählerinnen und Wähler haben sich positioniert und eine umkehrbare Entwicklung eingeleitet, die in der jüdischen Geschichte ihresgleichen sucht.

Die jüdische Gemeinschaft weltweit und in Israel löst sich zunehmend vom Diktat der Obrigkeiten, korrupten politischen Eliten, auch in weltweit im Namen der Juden agierenden Verbänden. Das Judentum demokratisiert sich, diesmal paradoxerweise ausgehend von der Israelfrage. Ob das Pendel nochmals in die Gegenrichtung dreht, hängt weitgehend auch von der Frage ab, ob jüdische und israelische Entwicklungen abseits von Parlamenten durch eine Art weltweites Oligarchentum torpediert werden. Denn Finanzströme definieren bei falsch verstandenem Mäzenatentum gesellschafts- und politische Ausrichtungen, die nicht mehrheitsgestützt, sondern monetär beeinflusst sind. Wenn nicht allen voran Israel mit seinen Institutionen zur Vorzeigeplattform für politische, soziale, kulturelle und letztlich jüdische Aktivitäten wird, dann werden sich die inhaltlichen und finanziellen «Geschäftsmodelle» der jüdischen Verbände außerhalb Israels weiterhin von Israel emanzipieren müssen, da schlicht überall das Geld fehlt, von dem große Teile jahrzehntelang nach Israel geflossen sind und die eigenen lokalen Institutionen in Bedrängnis gebracht haben.

In einer derart vernetzten und verwobenen Welt wird die Weichenstellung in die eine oder andere Richtung alle jüdischen Gemeinschaften weltweit betreffen. In Tel Aviv vereinen derweil die Gesänge die Menschen. Die Nigunim von Freitagabend werden auf Israels Strassen durch Volkslieder ersetzt. Die Menschen kommen mit Familien, die 18. Woche zeigt eine gelöste Stimmung und alles entwickelt sich zum großen Familienpicknick. Die Gegendemonstrationen jeweils am Donnerstag sind geradezu marginal, doch die Anzahl Waffenträger springt ins Auge und zeigt einen Teil israelischer Gesellschaft auf, der im öffentlichen Bewusstsein wenig präsent ist und zu wenig wahrgenommen wird. Der Ausgang dieser Entwicklungen bleibt offen. Der jüdische Reflex zur Demokratie allerdings wird in diesen Tagen noch stärker und vielleicht unumkehrbarer.

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Info:

Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 12. Mai 2023 
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.