Bundeswirtschaftsminister Altmaier prasentiert auf der Bundespressekonferenz Indizien fur eine wirtschaftliche ErholungDoch das Virus spielt nicht mit

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Angesichts des wochenlangen Lockdowns warnen Wirtschaftsverbände Bund und Länder vor schweren wirtschaftlichen Folgen und dringen auf ein konkretes Öffnungskonzept.

In einer vom Bundeswirtschaftsministerium verfassten "Gesprächsgrundlage" für die Beratungen der Wirtschaftsminister von Bund und Ländern heißt es, viele Unternehmen erhofften sich Hinweise auf eine konkrete zeitliche Perspektive, damit mehr Planbarkeit und Berechenbarkeit möglich würden. Dies ist als Reaktion auf den Versand von Öffnungskonzepten durch mehr als 40 Verbände an Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) zu verstehen.

Der gegenwärtige Lockdown mit Schließung etwa der Gastronomie und vieler Einzelhandelsgeschäfte war zuletzt von Bund und Ländern noch einmal bis zum 7. März verlängert worden. Wegen der mutierten Corona-Viren und des erneuten Anstiegs der Infektionen steht dieses Datum jedoch zur Disposition, selbst wenn einige Bundesländer, darunter auch Hessen, Entwürfe eines Ausstiegsszenarios veröffentlicht haben. Die Interessensvertreter der Wirtschaft versuchen daher mit aller Kraft Einfluss zu nehmen auf die Meinungsbildung in der Politik und in der Bevölkerung. In der FRANKFURTER RUNDSCHAU vom 26. Februar meldet sich beispielsweise ein Spitzenvertreter der Betriebskrankenkassen zu diesem Thema zu Wort.

Betriebskrankenkassen, und das sollte man wissen, sind bösartige Auswucherungen der kapitalistischen Wirtschaft, die in einen zentralen Bereich der gemeinnützigen Daseinsvorsorge eindringen. Während die gesetzlichen Krankenkassen keine vertraulichen Patientendaten an die Unternehmen weitergeben dürfen, sind diese Sozialversicherungen mit den Arbeitgebern identisch. Folglich vertreten sie nicht die elementaren Interessen ihrer Mitglieder, sondern die der Betriebe.

Deswegen ist es nicht überraschend, wenn sich Franz Knieps, Jurist und Vorstand des Dachverbands der Betriebskrankenkassen, in der FR so äußert, wie man es von ihm und seinesgleichen erwartet. Nämlich herablassend im Stil und eindeutig falsch in der Sache.

Das irrationale Verhalten von Menschen, die das Corona-Risiko während der warmen Tage im Februar verdrängten, kommentiert er mit Beifall: „Die Menschen strömten nach draußen, meist ohne Maske, mit wenig Abstand und mehr als einer Kontaktperson. Die Botschaft an die Politik war eindeutig: Die Bürger wollen raus aus dem Lockdown.“ Knieps‘ ideologische Position wird endgültig klar, wenn er ergänzt: „Sie haben die Nase voll von den immergleichen Warnungen und Schreckensszenarien, designend nach totalitärem chinesischem Vorbild und präsentiert von den immergleichen ›Experten‹“.
Es hat den Anschein, dass der Sozialdemokrat Knieps unter Ausnutzung der Corona-Pandemie jetzt vollenden möchte, was der früheren Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) nicht vollständig gelang. Nämlich die Zerschlagung der sozialen Krankenversicherung. Knieps galt damals als „graue Eminenz“ der Ministerin.

Franz Knieps macht seine Kritik vor allem an den Inzidenzzahlen fest, die nach seiner Meinung einen falschen Eindruck von der tatsächlichen Lage vermittelten. Angeblich gäben sie lediglich die Intensität wieder, mit der mittlerweile getestet würde, nicht aber das eigentliche Krankheitsgeschehen, vor allem schwere und schwerste Verläufe. Dem stehen jedoch die Erfahrungen der Intensivmedizin diametral entgegen. Hohe Inzidenzen fänden nach Darstellung leitender Klinikärzte ihre Bestätigung in einer hohen bis extremen Beanspruchung der entsprechenden Stationen, der Beatmungseinheiten und des knappen Fachpersonals.

Ähnlich wie Herr Knieps argumentieren auch die Vertreter einer Arbeitsgruppe von Wissenschaftlern um den Internisten Matthias Schrappe. Auch ihnen ist vorzuwerfen, dass sie das Wesen des Covid-19-Virus nicht begriffen haben. Was daran liegen könnte, dass Mediziner und Virologen in dieser Initiative in der Minderheit sind. Den Ton geben Juristen und Betriebswirtschaftler an, die man sicherlich als verlängerten Arm der Wirtschaft bezeichnen darf. So wie Franz Knieps auf seine Weise die Interessen des Kapitals repräsentiert.

Die Wirtschaft hat augenscheinlich auch Einfluss auf die schwarz-grüne hessische Landesregierung genommen, die am 25. Februar einen Stufenplan zum Ausstieg vorstellte, der aber unter dem Vorbehalt der weiteren Corona-Entwicklung steht. In der Hessenschau des hr-Fernsehens äußerte ein FDP-Politiker, dass er beim Perspektivplan "ein konkretes Datum" vermissen würde. Denn die Wirtschaft benötige Planungssicherheit. Die Hauptbeteiligten, das Virus und die Menschen, die ihm als Wirt dienen, spielen in solchen Überlegungen naturgemäß keine Rolle.

Der Leiter des Robert Koch-Instituts, Prof. Lothar Wieler, wies auf einer Pressekonferenz am 26. Februar warnend darauf hin, dass sich die Virusmutation B.1.1.7 rasch ausbreite. Sie sei "deutlich gefährlicher, und zwar in allen Altersgruppen". Nach der positiven Entwicklung zu Jahresbeginn stelle er nun "deutliche Signale einer Trendumkehr" fest. Wichtig sei, dass die Regeln weiter eingehalten würden. "Ansonsten steuern wir in eine weitere, in eine dritte Welle."

Wenn man die Reaktionen der Wirtschaft sowie die der ihnen nahestehenden Institute und Verbände analysiert, wird man feststellen, dass der Widerspruch gegen die Corona-Schutzmaßnahmen vorwiegend aus ganz bestimmten Branchen kommt. Nämlich aus den Reihen jener, die ihre Strukturprobleme bereits lange vor Corona nicht zu lösen imstande waren. Die z.B. auf Massenfrequenz und oberflächlichen Massengeschmack setzten. Hierzu zählen die großen Warenhäuser, die um der Profitmaximierung willen ihre Sortimente reduzierten und mittlerweile kaum noch Chancen gegen den Online-Handel haben, der mit virtuellen Spezialkatalogen aufwartet. Ebenso beklagen Immobilienspekulanten, die ihr Geld in 1A-Lagen investierten, die ausgestorbenen Innenstädte. Doch gerade sie haben Fachgeschäfte, die sich die Wuchermieten nicht mehr leisten konnten, verdrängt bzw. zur Aufgabe gezwungen. Auch die Gastronomie ist kardinalen Fehleinschätzungen erlegen. Ketten- und Schnellrestaurants, die nach dem ersten Lockdown fahrlässig und vorsätzlich gegen Abstandsgebote und Dokumentationsauflagen verstießen, haben Misstrauen gegen die gesamte Sparte hervorgerufen, was vielfach zu Lasten seriöser Lokale ging, die sich um echte Hygienekonzepte bemühten.

Und da sind noch die Schulen, denen von Kultusministerien Unbedenklichkeitsbescheinigungen ausgestellt werden, obwohl selten bis gar nicht untersucht wurde, ob und in welchem Umfang sie das Virus verbreiten. Hätte man sie an den jahrzehntelangen Erfahrungen hinsichtlich der Ansteckungsgefahr bei Erkältungskrankheiten gemessen, würde man sie nicht so leichtfertig von jedem Risiko freisprechen. Hinzu kommt, dass Schulen immer häufiger die Funktion von Kinderverwahranstalten übernommen haben, um den Eltern eine freie Berufsentfaltung zu ermöglichen. Die richtige Antwort auf diese gesellschaftlichen Veränderungen wären adäquate Konzepte für Ganztagsschulen gewesen. Also Unterricht plus individuelle Einzelförderung plus Aufgabenbetreuung vor Ort. Doch solche stoßen nach wie vor auf den Widerstand konservativer Parteien, Lehrer und Eltern. Hätte es sie im wünschenswerten Umfang gegeben, wäre das Homeschooling während der Pandemie besser praktizierbar gewesen.

Corona fordert uns heraus, indem es an die unbeantworteten Fragen dieser Gesellschaft erinnert. Und letztlich an eine der Kernfragen: Leben wir, um zu arbeiten? Oder arbeiten wir, um zu leben?

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Bundeswirtschaftsminister Altmaier präsentiert auf der Bundespressekonferenz Indizien für eine wirtschaftliche Erholung
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