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Kategorie: Musik
DSC04425 2 bereinigtZur Beethoven-gerechten Aufführung der Neunten durch Daniel Barenboim

Heinz Markert

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Seit Jahresbeginn hätte zum Beethoven-Jahr längst mehr zu dem Titan über die Sender kommen können. Allein mit den ersten Takten der Neunten, wie vom ZDF am Sonntagabend gezeigt, wurde unmissverständlich eine Faktizität ins nächtliche Berlin geschleudert: dass es sich mit der Sinfonie um die Apotheose der einen Menschheit und ihres universal gültigen Menschenrechts handelt und nicht etwa um die Rechtfertigung einer vielvölkisch zerspleißten Menschenmasse.


Recht so. Das war kein musikalischer Funktionalismus für ein alertes, auf Einträglichkeit bedachtes Bürgertum, das der Sache fremd gegenübersteht. Es war die undeutscheste Aufführung dieses Solitärs der Neunten, sparsam dirigiert durch die schlicht eingesetzte Wirksamkeit der Zauberhände, die der Dirigent auch am Klavier zur Anwendung bringt. Das Orchester kam mit Vorbewusstheit auf die Bühne, es war sorgsam auf die Arbeit des Abends eingestellt. Blieb nur noch ein wenig Lampenfieber. Der Nero-Komplex brauchte nicht zum Einsatz zu kommen.


Die Interpretation fordert den höchsten Allgemeinheitsgrad

DSC04424 2 bereinigtÜberfallartig schlug die Neunte aggressiv, ja militant auf dem Bebelsplatz ein. Der erste Satz raste wie eine Explosion des menschlichen Freiheitsdrangs über die sparsam besetzte Fläche. Reizvoll war, wie nachher der Chor plötzlich da war, wie aus dem Nichts entstiegen. Nie kam die Neunte als eine deutsche Macht daher. Sie ist ursächlich kosmopolitisch. Das Pathos der Entfaltung der menschlichen Freiheit und ihres unteilbaren Geistes – ohne Unterschiede des Rangs – schien noch mal dem Hirn des singulären Tauben zu entsteigen. Das Orchester spielte im Wissen um die Erhabenheit des Jahres (250 Jahre Beethoven). Wer kann sich an einer Umsetzung wie dieser schlussendlich satthören? Es kann nicht anders sein, als dass jemand sich in der letzten Minute an diese Klänge erinnern müsste, um wieder in den universellen Geist überzuwechseln und in eine neue Geistigkeit einzutreten. Dann kann das Rätsel des Seins entschlüsselt werden.


DSC04427 2 bereinigtIn Beethovens Sinfonien geht es um das Ganze und nicht nur um Teile. Nicht wenig lässt dieser Kraft- und Urquell aber auch pastorale Atmosphären zu, die das Tempo herausnehmen und die Urgewalt brechen. Nicht nur in den Sinfonien Beethovens schwingt in jeder Note der Anspruch der bürgerliche Revolution mit - der später dann und bis zum heutigen Tag misslungenen. Zugleich aber steht sie dafür, dass das Degressive der Entwicklung überstiegen, überwunden und in ein Neues, Besseres transformiert und sogleich auch Auskehr gehalten werden kann. In den Sinfonien Beethovens wird auch nüchtern transportiert, dass im gesellschaftlichen und planetarischen Leben fast unmerklich etwas Grundlegendes schieflaufen kann, es zum Bedrohlichen werden und über den Köpfen sich ballend über uns hereinbrechen kann.

Im Hintergrund Beethovens Sinfonien laufen lassend bin ich vor Jahren mit Emphase durch die Schriften von Kant, Hegel und Marx gefegt und habe mir deren Mehrwert eingesogen. Es war wie in einem Rausch. Davon blieb ein Wesentliches, worauf es ankommt: die Fähigkeit zu Differenzieren und zu Unterscheiden. Dieser Impuls ist gesellschaftlich noch unabgegolten, ist und bleibt verächtlich, indem auch das Abwiegeln, Kleinreden, Wegdefinieren und Ignorieren selbstgeschaffener Missstände der Gattung die Regel ist. Beethovens Sinfonien sind eine Apotheose der menschlichen Fähigkeit, sich des freien Geistes in Verantwortung für das Geschöpfte und Geschaffene zu bedienen, gegen alle Betrüger, Ausbeuter und Hintertreiber eines Besseren in Ämtern und hohen Positionen. Die Gewalt der Feinde des menschlichen Geschlechts ist in den Sinfonien unmissverständlich abgebildet. Wenn nicht, wären sie nur ein bedeutungsloser Konsumartikel unter dem Deckmantel höherer Kultur.

Apotheose auch ‚der Sprache‘

Zur Eigenart der Sinfonien Beethovens gehört das Überwechseln in die allgemeine Sprache, etwas wie eine Sprachapotheose, herausragend mit der Neunten. Sprache und Gesang sind hier wechselseitig bedingt. Der Gesang wird mehr noch zur Metasprache als es die Sprache der physischen Instrumente alleine zu leisten vermöchte. Die ‚Sprache‘ des Gesangs ist die als vernünftig veranschlagte Beziehung von diskursiver Sprache und Gesang; die allgemeine Sprache ist noch weitgehend verhüllt, so lehrte es Bloch, Ernst. Es fehlt, neuenglisch gesagt, das Interface. Computer können uns dabei nicht helfen. Sie sind geistlos und werden es immer bleiben.

Beethoven hat in vielen Ländern der Welt Anhänger, insbesondere in der jungen Welt, wie eine Dokumentation nach der Sendung der Aufzeichnung der Neunten im ZDF zu zeigen vermochte. Junge Gefolgsleute in vielen Ländern der Welt streben- und eifern ihm nach, werden zu Virtuos*innen. Wie auch der Junge aus dem syrischen Homs, Neil Tarabulsi, der sich 2017 an einem Klavier aus Kunststoff schwierigste Partituren unter schwierigen Lebensumständen zu spielen beibrachte. Er wurde als hochbegabt erkannt und an die Musikhochschule in München eingeflogen. Ein Video hierzu ist noch im Netz:

https://www.youtube.com/watch?v=C8VB3PssEO4

Fotos:
© 
ZDF