Erneut ein Meisterwerk des Opern-Regisseurs Christof Loy


Hanswerner Kruse

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die Oper Frankfurt eröffnete ihre neue Spielzeit mit Christof Loys Inszenierung „Der Sandmann“, frei nach E.T.A. Hoffmanns Erzählung. Nach der Uraufführung 2012 in Basel, brachte der internationale Regiestar das Gesamtkunstwerk erneut als großartigen und sehenswerten Psychothriller auf die Bühne.


„Bitte nehmen Sie mich!“ Fast zum Ende des Stücks füllt sich die karge Bühne mit grell geschminkten Frauen (des Chores) in roten aufreizenden Kleidern, die allesamt kreischen: „Bitte nehmen Sie mich!“ Rauben Nathanaels Fleisch gewordene Fantasien ihm nun endgültig den Verstand oder sind es reale mechanische Puppen, die ihn in den Abgrund treiben? Von Anfang an vermischen sich im Stück die Wahnvorstellungen des Dichters Nathanael (Daniel Schmutzhard) mit dem scheinbar echten Leben: Ein Albtraum, der nicht endet.


Anfangs ist die Bühne pechschwarz, seltsam grell von Leuchtstoffröhren eingerahmt. Die Ouvertüre,  es gibt wirklich eine Ouvertüre!, evoziert mit tiefen Fagott-Tönen oder sphärischen Violinen-Klängen eigene Assoziationen oder Erinnerungen an „Hoffmanns Erzählungen“. Tatsächlich handelt der zweite Akt dieser Oper Jacques Offenbachs vom „Sandmann“.  Später werden die Töne schriller und atonaler, es wird hell, Nathanael windet sich, vom Irrsinn gepackt, in einer Ecke.


Der Poet streitet mit seiner Verlobten Clara (Agneta Eichenholz) über seine ihn bedrängenden Trugbilder, die jedoch Grundlage seiner Dichtung seien. „Du brauchst einen Arzt. Alles ist real,“ setzt sie stoisch dagegen. Doch im Hintergrund  agieren längst, bestens miteinander vertraut, der tote Vater Nathanaels und der Sandmann, der ihn möglicherweise umbrachte.


Dann taucht nach und nach der Chor auf, als Literaturkritiker diskutieren und loben die Sänger und Sängerinnen das Buch des Dichters, feiern und begrabschen ihn. Clara, die das Getümmel nicht wahrnimmt, wirft ihm seine literarischen Fantasien vor: Sex mit einer regungslosen Puppe, die auch noch Clara heißt... „Du verwechselst Kunst und Realität“, tobt Nathanael, aber Clara wehrt sich: „Ich werde mich niemals Deinem Bild anpassen“.


Später erscheint sie als Clarissa im aufreizenden roten Kleid und beteuert andauernd: „Ah so. Bin ganz ihrer Meinung!“ Schließlich wirft sie sich ihm hemmungslos an den Hals, fällt dann jedoch zusammen - und entpuppt sich als defekter Automat. „Alles nur eine Frage der Programmierung“, meinen unisono toter Vater und Sandmann und bieten unaufhörlich neue Puppen an, bis die Bühne voll von ihnen ist: „Bitte nehmen sie mich...“


Neben bedrohlichen, düsteren Bildern zeigt die Oper immer wieder solche grotesken Fantasien, bei denen das Lachen im Halse steckenbleibt. Das Libretto (Thomas Jonigk)  gleitet nie ins Vulgäre oder Lächerliche ab. Die zeitgenössische Musik des Komponisten Andrea Lorenzo Scartazzini schafft sehr nuancenreich angemessene Atmosphären und paraphrasiert die Handlung, sie verdoppelt nicht melodramatisch das Geschehen. Das Gesangsduo Schmutzhard und Eichenholz zeigt eine brillante gesangliche und schauspielerische Leistung, auch die anderen Figuren sind hervorragend besetzt. Wie so oft bei Loy agiert in seinem fantastischen Bildertheater auch der Chor mit äußerst differenziertem Theaterspiel.


Sowohl die Schöpfer des Bühnenwerks als auch Regisseur Loy konzentrieren sich in den zehn Szenen des Werks auf das abstruse Frauenbild Nathanaels und seiner Zeit (die Frau als Puppe) sowie den Wahnsinn, der ihn in die soziale Isolation und den Tod treibt. An seinem Grab entlässt Clara die Zuschauer mit der Frage in den Abend: „Was wäre, wenn wir uns mehr um ihn gekümmert hätten?“



Hintergrund
Die Schauergeschichte „Der Sandmann“ erschien zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Blütezeit der schwarzen Romantik. Das Thema künstlicher Menschen und Automaten beflügelte die literarischen Fantasien der Dichter und ihrer Leser. Hoffmanns Erzählung wurde sehr häufig von anderen Kunstformen (Kino, Ballett, Musik) aufgegriffen. Sie ist formal und inhaltlich noch erheblich verschachtelter als die moderne, in Frankfurt präsentierte Oper. Mittlerweile gibt es derartig viele Interpretationen des Sandmanns, dass der Reclam-Verlag süffisant schrieb: „Die Zahl der Deutungen hat in den letzten Jahren ein derartiges Ausmaß erreicht, dass die Interpretation des Sandmanns wie eine literaturwissenschaftliche Spezialdisziplin anmutet.“
Die Frankfurter Inszenierung erschließt sich allerdings ohne große Vorkenntnisse.



Foto:  Clarissa (Agneta Eichenholz), die erotische Puppe, und der irrsinnig werdende Dichter Nathanael (Daniel Schmutzhard) © Monika Rittershaus, Oper Frankfurt

Info:

Weitere Aufführungen am 8., 13. und 23. Oktober www.oper-frankfurt.de