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Kategorie: Unterwegs
"HOLÁ SEBASTIAN!", ... Eine Erinnerung an Zeiten als Reisen erlaubt war, Teil 2/3

Klaus Jürgen Schmidt

Nienburg/Weser (Weltexpresso) – ... Es ist stockdunkle Nacht als Sebastian, nun noch beschwingter, aufs Gas tritt – um nach ein paar Kilometern abzubremsen und nach rechts abzubiegen, weg von der Teerstraße, weg von der Küste, hinauf in die Berge, auf einem Schotterweg, den ich dem Mini-Seat keinesfalls zugemutet hätte. Nach gefühlten fünf Kilometern lässt er den Kleinwagen so weit nach rechts rollen, dass ich durch das offene Seitenfenster eine Felsenwand spüren kann. 

Als er stoppt, ist meine Tür blockiert und ich muss über den Fahrersitz rausklettern, um dann linkerhand – sehr, sehr weit unter uns – die wenigen Lichter von La Rajita (?) zu sehen und von weiter entfernten Ortschaften entlang der Küste. Wo, bitte, soll ich hier oben übernachten?

Sebastian hat sich die Taschenlampe gegriffen, und ich erkenne den Grund für das Aussteigen. Die Schotterpiste ist hier zu Ende und ich soll auf einem Ziegenpfad hinter seinem Lichtkegel her weiterlaufen, rechterhand die Felswand, linkerhand ein was weiß ich wie tiefer Abgrund, und in wechselnder Hand die Literflasche Brandy.
Meine Kommunikation habe ich eingestellt, ich muss aufpassen, den vor mir herhuschenden Lichtkegel mit der schwankenden Silhouette davor nicht aus den Augen zu verlieren. Seine Kommunikation: Sebastian fängt an, sehr laut zu pfeifen. Es ist – ja was? – eine rhythmische Melodie, eine Tonfolge, in Abständen wiederholt. Und dann – aus weiter Ferne kommt wie ein Echo dieselbe Tonfolge zurück. ...

... Weiß ich doch, hab ich doch in meinem Reiseführer gelesen: Weil auf Gomera Menschen durch Schluchten getrennt sind, lernten sie, sich über diese hinweg durch ausgeklügelte Pfeifsignale zu verständigen. ...

Das Pfeifecho kommt näher, und schließlich auch ein flackernder Lichtschein, hervorgerufen durch eine Fackel in einer Hand, die sich in diesem Moment – noch weit vor uns – um eine Felsenecke schiebt. Dahinter die Silhouette eines Mannes vor dem Licht einer zweiten Fackel. Beide Fackeln kommen zögerlich näher. Schon ziemlich nahe sehe ich plötzlich in der zweiten Hand des ersten Fackelträgers etwas schimmern, die Klinge einer Machete!!!
Hinter dem stehengebliebenen Sebastian halte ich den Atem an – und die Literflasche Brandy als Wurfgeschoss bereit.
Erst jetzt bemerke ich, dass mein Vordermann die Taschenlampe nicht mehr nach vorn gerichtet hält, sondern nach oben, auf sein eigenes Gesicht.
„Sebastian!!!“ Die Fackelträger rufen das. Sie eilen heran. Fackeln und Macheten fallen zu Boden. Ich trete drei Schritte zurück, um vom Freudentanz nicht auch noch zu Boden geworfen zu werden, oder schlimmer – in den Abgrund.
„Holá Sebastian!“
„Holá ... (Namen?)“
Man kennt sich, die Fackeln werden wieder aufgelesen, die Macheten hinter Gürtel gesteckt – und ich werde beinahe vergessen. ...

... Die Namen der neuen Protagonisten habe ich vergessen – aber nicht ihr Aussehen. ... Nicht sehr vertrauenerweckend!!!
Und das hat nicht bloß mit den Macheten zu tun. Als sich Sebastian wieder an mich erinnert, lässt er das Taschenlampenlicht zwischen mir und den beiden Ankömmlingen hin- und herwandern. Schwarz bemalte Gesichter meine ich zu erkennen, knotig harte Finger fühle ich, die meine freie Hand umklammern – und auf dem Ziegenpfad nicht wieder loslassen, bis wir dort eintreffen, wo Sebastian offenbar die ganze Zeit hinwollte:

In das Berglager dreier Köhler!!!

Es dauert eine Weile, bis ich begreife, dass Sebastian einst mit diesen Männern in den Bergen gelebt hat – um Holzkohle zu brennen. ...
... Falscher Begriff! Ich lerne später: „Holzkohle entsteht, wenn lufttrockenes Holz unter Luftabschluss und ohne Sauerstoffzufuhr erhitzt wird. Die Temperatur steigt dabei von selbst an. Dabei verbrennen die leichtflüchtigen Bestandteile des Holzes. Als Rückstand erhält man etwa 35 % Holzkohle.“ (WIKIPEDIA)...

... Der Dritte hat auf das Feuer unter einem riesigen gusseisernen Topf aufgepasst .

Wir kommen – offenbar dank Sebastians Erfahrung – gerade rechtzeitig zur spätabendlichen Hauptmahlzeit der Köhler. Und was gibt es?
Kohl!!! Eine Art Weißkohl, der wild an Berghängen wächst, lerne ich. Dazu Fleisch aus eigener robuster Hühnerhaltung. Und Rotwein aus einem großen, durch Korbgeflecht geschützten Glasballon, herumgereicht zum Auffüllen zerbeulter Blechtassen, die später zu Kaffeetassen werden, dann gefüllt mit dem stark gezuckerten Gebräu aus einer rußigen Blechkanne – und mit gerne immer wieder akzeptiertem Schuss aus der mitgebrachten Brandy-Flasche, deren Bedeutung mir nun klar ist: „El CARAJILLO mas bueno!“ sage ich, stolz auf meine Spanisch-Kenntnisse.
Sebastian schüttelt sich aus vor Lachen und bespricht die Angelegenheit mit seinen Ex-Kollegen. Die lachen auch. „CORAJILLO!“ Sagen dann alle drei.
Was, bitte, ist der Unterschied zwischen „a“ und „o“? ...

... Den finde ich viel später heraus: Der Begriff geht auf die spanische Kolonialgeschichte Kubas zurück. Die Soldaten der kolonialen Truppen mischten gezuckerten Kaffee mit Rum, um Mut zu bekommen, „coraje“ auf Spanisch, also „corajillo“. Und erst seit in Spanien Touristen Soldaten ablösten, heißt das jetzt bei Urlaubern beliebte Kaffee-Gemisch „carajillo“ (WIKIPEDIA).

(Obwohl: müsste es dann nicht „carojillo“ heissen, von „caro“ = „teuer“?) ...

„Holzkohle entsteht, wenn lufttrockenes Holz unter Luftabschluss und ohne Sauerstoffzufuhr erhitzt wird.“ Um das zu kontrollieren, verschwindet in regelmäßigen Abständen – trotz zunehmenden „corajillo“-Konsums – einer der Köhler. Irgendwann torkele ich mit und lerne eine Köhler-Arbeit kennen, die keine Pause erlaubt. Große Mengen kleingehauenen Holzes kokeln unter zahlreichen Sandhügeln, aus denen hier und da dünne Rauchkringel entweichen. Das darf offenbar nicht sein, denn mit einer aus Holz geschnitzten Kelle werden die Rauchlöcher zugestrichen. In den folgenden Stunden begebe ich mich gelegentlich alleine auf den Gang zu diesen Sandhügeln, um selber die Kelle in die Hand zu nehmen. Die Brandy-Flasche ist fast leer. Die Köhler legen Arbeitspausen ein. Und es gibt ja noch den Korb-Ballon mit dem Rotwein. Und dessen sinkender Pegel führt zu außergewöhnlicher Betätigung.

Um das Feuer tanzen zu sehr später Stunde plötzlich fünf Männer.
Was haben wir da getanzt? Mit klappernden Blechtassen als akustischer Begleitung, und mit mir unverständlichen Gesängen? ...

... Heute weiß ich es: „Das älteste Beispiel zur Veranschaulichung von typischer Musik aus La Gomera ist der tajaraste. ... Sowohl die Tänzer als auch die Musiker sind fähig, den tajaraste stundenlang, auf eine Art und Weise, die an primitive Tänze erinnert, zu verlängern. Dieser Tanz besteht aus regen Bewegungen zu den Rhythmen der Trommel und der chácaras, hohle Perkussionsinstrumente, normalerweise aus Maulbeerbaumholz, die an beiden Handgelenken gebunden werden und einen eigentümlichen Klang haben. Aufgrund der seltsamen Betonung ist es Fremden praktisch unmöglich, die beim Trommeltanz gesungenen Texte zu verstehen. Diese handeln meist von Unglücken und von Hungerzeiten, werden jedoch mit dem schelmisch verschmitzten Humor der Einheimischen gesungen. Von den sieben Inseln der Kanaren ist La Gomera diejenige, auf der die Gewohnheiten und Traditionen am Ursprünglichsten erhalten wurden.” (GOMERA PARA TODOS)

... Schelmisch verschmitzt ist nichts von dem, was ich in jener Nacht am heruntergebrannten Lagerfeuer erfahre – von alkoholisierten Zungen, die auf zauberhafte Weise polyglott geworden sind. Sebastian ist längst irgendwo weggeschlummert als ich mir aus Bruchstücken einer Erzählung zusammenreime, dass an meiner Schulter einer der Köhler um seinen Bruder trauert, der vom Meer nicht zurückgekehrt ist. Und ein anderer Köhler hustet ständig so nachdrücklich, dass nach meiner unmaßgeblichen Beurteilung ein Doktor-Besuch längst fällig wäre.

Aber da hat mich selber die Müdigkeit übermannt, im Morgengrauen finde ich mich ausgestreckt auf Säcken von Holzkohle wieder.
 
FORTSETZUNG FOLGT

Foto:
Grafik:© Klaus Jürgen Schmidt

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