In Heidelberg und auf dem Neckarsteig, Teil 3/3

Thomas Adamczak

Heidelberg (Weltexpresso)   -  Mir kommt eine junge farbige Frau entgegen. Lachend, laut lachend. Sie hat ein Buch in der Hand, in dem sie liest. Die muss ich natürlich ansprechen. Ob ich erfahren dürfe, was sie lese. Ja, sicher. Sie lese das Buch schon zum 2. Mal. Sie lese öfters beim Gehen, wenn ihr die Wege vertraut sein und die hier in der Altstadt sind ihr vertraut.

 Dann müsse sie ja nicht so genau auf den Weg achten. Sie zeigt mir, wie sie das Buch beim Gehen hält, so dass sie gerade noch sehen kann, ob ihr jemand entgegenkommt oder ein Hindernis im Wege steht. Sie ist von ihrer Gehlesetechnik begeistert. Es klappe vorzüglich.

Sie liest Bölls „Verlorene Ehre der Katharina Blum“. Sie erklärt mir, was sie an Bölls Roman komisch findet. Eine solche Art von Humor lasse sie herzhaft lachen. Vergnügt sieht sie aus. Natürlich geht es in dem Roman um ein ernstes Thema, die Hetze der Bildzeitung, aber Böll verstehe es, immer wieder Komik aufblitzen zu lassen. Sie studiere vermutlich Germanistik, frage ich. Nein, nein, sie studiere Jura. Literatur lese sie zur Entspannung.

Ich stelle mir vor, dass ihr Beispiel Schule macht. Jeder 2. Fußgänger in einer x-beliebigen Stadt, Großstadt, liest während des Gehens in einem Roman. Manche lachen wie mein Gegenüber, andere fangen an zu weinen, schluchzen, drücken durch Ausrufe ihr Erstaunen, Entsetzen, ihre Verärgerung aus. Und die dadurch ermöglichten Gespräch erst:

 - Was lesen Sie denn?
- Ja, stellen Sie sich mal vor, was in meinem Roman gerade passiert ist.
- Ich lese einen Krimi, den ich Ihnen nur empfehlen kann.
- Diese Autorin rührt mich immer zu Tränen.
- Ach, wollen wir uns nicht einfach in ein Café setzen, um unsere Lektüreerfahrungen    auszutauschen?
- Gute Idee!
- Darf ich mich Ihnen anschließen?
 
Das ehemalige Land der Dichter und Denker würde zu einem Land der Leserinnen und Leser. Literarisches Gespräch in der Stadt wäre das neue Hochwertwort.

Ach, und dann noch die Begegnung mit der älteren Frau, allein unterwegs wie ich. Da kommt man leicht ins Gespräch.

Sie wird auf genau dieser Strecke eine Wandergruppe führen. Eine Passage könnte, meint sie, für die älteren Leute zu gefährlich sein. Sie sucht nach einer weniger riskanten Alternative. Wandern in der Gruppe. Sie kommt ins Erzählen. Eine Wandergruppe sei eine träge Masse. Am meisten redeten die Frauen, unentwegt und ziemlich lautstark. Und es gehe immer um dieselben Themen. Erst  um Krankheiten, irgendwelche Wehwehchen oder auch Schlimmeres, das sei das wichtigste Thema. Dann über Rezepte, neue und erprobte, dann über den letzten Urlaub und den geplanten. Sie stört, dass die Leute, wenn sie in der Gruppe gehen, vor lauter Gequassel gar nicht ihre Umgebung wahrnehmen.

Ich stoße auf fünf „Schatzsucher“, fünf Freunde, höfliche, ständig lächelnde junge Leute, die per GPS nach versteckten „Schätzen“ suchen. Schätze? Das sind kleine Geschenke, zum Beispiel der Inhalt eines Überraschungseis. Oder ein Büchlein mit der Bitte, sich in das Buch einzutragen. Ähnlich einem Gipfelbuch. Die „Schätze“  werden von Leuten, die Mitglied in diesem europaweiten Verein sind, versteckt, zum Beispiel im Waldboden vergraben. Eine Weile gehe ich zusammen mit diesen modernen Schatzsuchern. Dann die Meldung, dass 30 m abseits vom Weg ein verstecktes Kästchen mit Überraschungsinhalt zu finden ist. Ich verabschiede mich. Suche mir meine Überraschungen lieber selber.

In der Kabinenbahn vom Königsstuhl herunter in die Altstadt von Heidelberg treffe ich Tadzio. Tadzio nenne ich den Jungen, weil er mich an eine zentrale Figur in Thomas Manns „Tod in Venedig“ erinnert.

Es ging um eine nahezu leere Wasserflasche. Der Junge, höchstens 12 Jahre alt, bildhübsch, Lockenpracht, will die Flasche nicht länger mit sich herumschleppen. Er hat sich festgelegt, das sieht man ihm an, wiewohl er oder gerade weil er in besonderer Weise lächelt. Er brauche die Flasche nicht, nicht mehr. Hat genug getrunken. Sie ist ihm lästig. Die Mutter soll sie tragen, eine Mutter von drei Kindern.

Ich sehe die Mutter an und verstehe, wieso dieser Junge so gut aussieht. Tadzio hat noch eine ältere Schwester, die einen Gang weiter neben dem Vater, und einen jüngeren Bruder, der neben Tadzio der Mutter gegenüber sitzt. Die Mutter denkt nicht daran, die Flasche zu nehmen. Ganz ruhig erklärt sie dem Jungen, er habe schließlich die Flasche haben wollen, habe Durst gehabt, den Durst gestillt, und jetzt müsse er sie tragen, es sei  sozusagen seine Flasche. Der Junge will nicht hören, was die Mutter sagt, er will lediglich die Flasche loswerden, und zwar jetzt, unbedingt und augenblicklich. Er scheut vor der Kraftprobe mit der Mutter nicht zurück, vielleicht sucht er sie sogar. Soll doch die Mutter nachgeben. Er nicht.

Ich schalte mich ein, vielleicht ein wenig zu früh. Er könne doch versuchen, die Mutter mit Argumenten zu überzeugen, wieso ihm nicht zuzumuten sei, diese Flasche länger in der Gegend herumzuschleppen. Oder, besser eigentlich, er erfinde eine Geschichte, aus der hervorgehe, dass es für ihn außerordentlich bedeutsam sei, diese Flasche endlich loszuwerden. Der Junge hört aufmerksam zu. Er lächelt. Ihm geht, das ist mein Eindruck, einiges durch den Kopf. Doch dann geht er auf das vorgeschlagene Spiel zu meinem Bedauern nicht ein, vielleicht ist er innerlich zu sehr festgelegt. Demonstrativ hält er der Mutter die Flasche hin.

Ich mache einen weiteren Versuch. Wenn er ein Gentleman sein wolle, könne er doch großzügig sein und diese Flasche weiter tragen. Die Idee gefällt der Mutter. Sie pflichtet mir bei. Das sei doch eine gute Idee. Der Junge lächelt, jetzt wie ein Engel. Gefällt ihm die Idee mit dem Gentleman? Er überlegt. Kurz nur, dann setzt sich, ich sehe es am Gesichtsausdruck, die ursprüngliche Idee durch. Die Mutter soll nachgeben. Sie soll dem Prinzchen zu Willen sein. Die Mutter will nicht. Sie hebt die Stimme, wird energisch. Jetzt sei aber Schluss. Und: Ruhe jetzt!

Auf den Fernwanderwegen begegnet man immer mal wieder den Spuren missionarischer Eiferer. Diese scheinen zu befürchten, dass sich Wanderer im Wald langweilen, weil zu wenig passiere. Deswegen werden Schilder mit weisen Sprüchen aufgestellt, die die Vorbeigehenden zum Nachdenken inspirieren sollen. Motto: Die Leute sehen einfach nicht genug und denken zu wenig nach. Denen muss auf die Sprünge geholfen werden. Weisheiten sind dazu da, dass man sie unter das Volk bringt.

Das Gute für den Wanderer ist, dass er die letztlich gut gemeinten Denkanstöße einfach übersehen, sie sogar ignorieren kann.

Machen wir die Probe aufs Exempel. Ignorieren Sie die folgenden Zitate oder halten Sie inne, wenn Sie denn möchten.

In der Nähe von dem Mörlenbach finde ich am E1 folgende Inschriften:

„Blicke zurück
Erinnere dich
Löse dich
Schreite voran.“

„Ganz gleich, wie beschwerlich das Gestern war, stets kannst du im Heute von neuem beginnen.“ (Gautama Buddha)

„Habt Ehrfurcht vor dem Baum, er ist ein einziges großes Wunder.“ (Alexander von Humboldt)

Und, was denken Sie nun?

Den Neckarsteig endet in Heidelberg. Diese Stadt ist kein ungeeigneter Kontrast zu den verschiedenartigen Eindrücken auf der 8-tägigen Wanderung.

In der Heidelberger Hölderlin-Anlage stoße ich auf den Anfang eines der schönsten Gedichte Hölderlins zum Preise Heidelbergs. Womöglich ist diese Stadt im Zweiten Weltkrieg deshalb nichts bombardiert worden, weil ein Oberkommandierender Hölderlins Gedicht und die Stadt kannte.

„Heidelberg
Lange lieb ich dich schon, möchte dich
Mir zur Lust, Mutter nennen, und
Dir schenken ein kunstloses Lied, du der
Vater Städte ländlich schönste,
So viel ich sah.“
Friedrich Hölderlin (1770-1843)

Foto: Neckiar Eberbach©Odenwald Tourismus

Info:
 
Odenwald Tourismus GmbH
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http://www.neckarsteig.de

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