Serie: „Allzunah“  - Unterwegs auf dem Rennsteig, Teil 3/4


Thomas Adamczak  
 
Eisenach (Weltexpresso) Alle Menschen erinnern sich mehr oder weniger an Ereignisse, Erlebnisse, Erfahrungen, mit denen sie groß geworden sind, die sie im Laufe ihres Lebens geprägt haben. Es gibt eine Sehnsucht nach einer unverwechselbaren Identität, einer Identität, die Halt gibt, Sicherheit vermittelt. Dafür ist es erforderlich, wenn nicht notwendig, sich an Erinnerungswertes aus der eigenen Biografie erinnern zu können. Lässt sich so das Phänomen der Ostalgie erklären?


Es gab bei aller Kritik, die an der DDR geübt werden muss, doch eine Art »Gefühlsheimat«, unter anderem geprägt durch die Erinnerung an ein als wichtig empfundenes Zusammengehörigkeitsgefühl, das unter gegenwärtigen veränderten Umständen nicht mehr oder weniger stark empfunden wird. Gegen eine solche erinnerte Zusammengehörigkeit, die, wie vielfach versichert wird, erlebbar gewesen sein soll, lässt sich schlechterdings wenig einwenden.
Die verbreitete Sehnsucht nach einer wenigstens teilweise »heilen Heimat« führt allerdings mitunter zu einer  Verklärung der Vergangenheit, führt dazu, dass Problematisches oder gar Traumatisches vergessen oder verdrängt wird.

Worin besteht der hauptsächliche Unterschied zwischen einer Wanderung im Odenwald oder Schwarzwald und einer im Thüringer Wald? Die gewaltigen Umbrüche nach dem Fall der Mauer, der damit verbundenen Wende, wirken nach. Meine Erfahrung ist, dass man bei den Begegnungen mit Menschen in den neuen Bundesländern und zumal bei einer Wanderung wie der auf dem Rennsteig leicht ins Gespräch kommt. Die Leute sind voller Erinnerungen und brauchen nur angetippt zu werden, um einen an diesen Erinnerungen teilnehmen zu lassen. Oder mache ich solche Erfahrungen deshalb, weil ich hier viel öfter das Gespräch suche als im Odenwald, häufig nachfrage, mir gern Zeit lasse?

Auf dem Marktplatz von Eisenach, also vor Beginn der Rennsteigwanderung, komme ich mit drei älteren Herrschaften (zwei Männer, eine Frau) ins Gespräch, die vor der imposanten Georgenkirche auf einer Bank sitzen. [In der Georgenkirche predigte Martin Luther in der Zeit der Reformation, sie ist also eine der ältesten protestantischen Gotteshäuser. Johann Sebastian Bach wurde in ihr getauft. Sie war bis zur Fusion der evangelischen Kirchenprovinzen Sachsens und Thüringens Bischofskirche der Evangelisch-Lutherischen Kirche Thüringens.] Zu Füßen des einen der Männer liegt ein Schlüsselbund. Ich mache ihn darauf aufmerksam. Er bedankt sich. Es folgt ein Gespräch.

Erste Frage: Woher ich käme. Rein-Main-Gebiet. Das genügt, um mich als Wessi zu identifizieren. Dass ich in Leipzig geboren bin, scheint nicht mehr zu interessieren. Ich lebe im Westen, also bin ich Wessi. Diesem Wessi wollen sie alle etwas über sich, ihr Leben in der DDR mitteilen und sich so ihrer eigenen Sicht auf die vergangene Zeit vergewissern. Wer sich nicht mit dem »System« angelegt habe, hätte ein gutes Leben gehabt. Meine zuspitzende Frage, ob die DDR nicht ein großes Gefängnis gewesen sei, wird einigermaßen entrüstet zurückgewiesen. In einem Gefängnis könne man nicht gut leben, sie aber hätten alles in allem gut gelebt.

Die Frau war in einem Krankenhaus medizinisch-technische Assistentin, der eine der Männer Diakon, der andere  Offizier, zeitweise auch eingesetzt zur Grenzsicherung. Dieser ehemalige Offizier hat das Bedürfnis zu erklären, wieso er zur Nationalen Volksarmee (NVA) gegangen ist und unbedingt Offizier werden wollte.

Sein Geschichtslehrer habe ihn und Mitschüler für den Aufbau der DDR begeistern können. Er habe von KZ-Erfahrungen während der Nazizeit berichtet, den erforderlichen Schutz der DDR vor äußeren Feinden eindrucksvoll ausgemalt. Er habe solch  starken Einfluss auf seine Schüler gehabt, dass sich mehrere, unter anderem er selber, dazu entschieden hätten, die Offizierslaufbahn einzuschlagen.
Dieser Geschichtslehrer wurde später Schulleiter, als Schulleiter aber »degradiert«, weil dessen Tochter, begünstigt durch die Verbindung mit einem populären Schauspieler in der DDR (Mueller-Stahl) in den Westen übersiedeln durfte. Mueller-Stahl hätte nur für fünf Jahre in West Berlin/Westdeutschland bleiben dürfen, sei aber nach dieser Zeit nicht wieder in die DDR zurückgekehrt. Die Erfahrung der Degradierung des Lehrers führte zu dessen Desillusionierung und, das konnte man der Erregung des Gesprächspartners entnehmen, wohl auch zu seiner eigenen Ernüchterung. Nur: Er war mittlerweile Offizier in der NVA der DDR. Welche Wahl hätte er gehabt?

Meine anschließende Frage nach der Bedeutung von Freizügigkeit wird unisono beantwortet. Diese sei in der DDR in unerträglicher Weise eingeschränkt worden. Dann geht das Gespräch über zum Thema Wende. Anfängliche Euphorie, die natürlich nicht bleiben konnte.  Ernüchterung als zwangsläufige Folge. Die großen Umwälzungen hätten Verlierer zur Folge gehabt. Solche Art von Verlierern habe es in der DDR-Zeit nicht gegeben, also Leute, die völlig aus dem System herausgefallen seien. Das versichern meine Gesprächspartner übereinstimmend. So etwas wie Hartz IV gab es ja nicht. Es gab Arbeitszwang, und der sei für einige Leute durchaus heilsam gewesen.

Von einer Lehrerin für geistig behinderte Kinder aus der Nähe von Frankfurt/Oder erfahre ich später auf der Wanderung, dass es zu DDR-Zeiten die Kategorie »nicht beschulbare Kinder/Jugendliche« gegeben habe. Die seien in »Aufbewahranstalten«, meist wohl psychiatrische Kliniken, weggesperrt worden. Dieses Beispiel hätte ich gerne im Gespräch mit den Leuten auf dem Marktplatz von Eisenach einfließen lassen. Was sie wohl dazu gesagt hätten?

Von sich aus kommen sie auf die vielen Russlanddeutschen in und um Eisenach zu sprechen, die allergisch auf Kritik an Putin reagierten. Mir fallen dazu türkischstämmige Leute in Deutschland ein, unter anderem meine Schneiderin, die ihren Präsidenten Erdogan gegen Angriffe vehement verteidigen. Auch hier das Bestreben, die Sehnsucht nach einer »heilen Heimat«, auch wenn sie verlassen wurde, zu kultivieren. Verglichen mit den eigenen Erfahrungen vor der Putin-Ära und vor der Erdogan-Zeit werden die Entwicklungen ihrer »alten Heimat« unter der neuen politischen Führung von der »neuen Heimat« aus positiv bewertet. Es gibt eine hohe Bereitschaft, Problematisches nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen.

Auf Erinnerungen an negative Erlebnisse stößt man, wenn das Gespräch nicht vorschnell abbricht, es also zu einem wirklichen Gespräch kommt. Bei einem solchen Gespräch berichtet eine Lehrerin von ihrem Elternhaus. Ihre Eltern hätten ihr während der Schulzeit und auch in der späteren Ausbildung gelegentlich zu verstehen gegeben, dass man bestimmte Fragen in der Schule nicht stelle, schon gar nicht irgendwelche Lehrsätze der marxistisch-leninistische Philosophie hinterfrage. Es gebe Situationen, so äußerten sich wohl viele Eltern gegenüber ihren heranwachsenden Kindern, in denen man besser den Mund halte.

Gespräche verlaufen eher befriedigend zwischen Menschen aus den neuen und alten Bundesländern, wenn in hinreichend empathischer Weise akzeptiert wird, dass man sich in den Erfahrungen unterscheidet, was unterschiedliche Einstellungen und Präferenzen zur Folge hat. Besser ist es allemal, über Unterschiede zu staunen, statt besserwisserisch den eigenen Senf anzupreisen.

Begegnung mit einem älteren Ehepaar in der Nähe des Hotels »Arnika«, in dem sich, so erfahre ich, Expräsident Wulff im Heubad des Hauses geaalt haben soll: Der Mann grüßt sehr freundlich. Bleibt stehen. In der Stadt werde nicht gegrüßt, hier im Thüringer Wald aber generell. Er sei neugierig, bleibe gern stehen, erfahre eigentlich immer etwas Neues, ihn Bereicherndes.

Neugier als Devise: Nicht schlecht! In Eisenach sitze ich auf einer Bank. Ein Mann nähert sich, bittet mich um etwas Geld. Er wolle sich etwas zu essen kaufen. Ich schreibe gerade in mein Notizbuch, reagiere nicht sofort, will den angefangenen Satz zu Papier bringen. Er setzt sich auf die Bank unmittelbar neben mir. Etwas umständlich kramt er eine Pfeife hervor, stopft sie sorgfältig, schmaucht genüsslich, wie mir vorkommt. Ich mustere den Mann verstohlen. An Weiterschreiben ist vorerst nicht zu denken. Der Mann ist besser gekleidet als ich mit meiner Wanderkleidung. Er sieht, dass ich gucke, zieht an seiner Pfeife und fragt erneut, ob ich ihm Geld geben könne.



Foto: Wartburg©Thomas.Adamczak

Info: https://www.thueringen-entdecken.de/urlaub-hotel-reisen/index.html
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