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Kategorie: Wissen & Bildung
Paradoxien opt DSC03483Es besteht die Sorge, dass immer mehr Staaten der Welt in ungeordnete, nicht mehr steuerbare Verhältnisse geraten  Teil 1/2

Heinz Markert

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Das Institut für Sozialforschung veranstaltete eine gegliederte Vortragsreihe zum Aufkommen disruptiver Entwicklungen im Gefüge etlicher Staaten, die von möglicherweise geschichtsmächtig wirkenden ’Paradoxalen‘ umgeformt werden.

Marx plus Freud, das war einmal die erfolgreiche Ehe im Gang aufgeklärter Gesellschaftstheorie, um Gesellschaft und Geschichte erklärbarer zu machen. Die Sozialforschung ist in einen Prozess eingetreten, der die Gegenwart mit der Bezeichnung Normative Ordnungen in einen möglicherweise sinnvollen Blickwinkel rückt, um daraus abgeleitet angemessene Möglichkeiten der Erkenntnis aufzuschließen. Der Ansatz ist aus dem akademischen Theoriefeld geboren, er bestätigt mithin die Distanz zur Praxis vor Ort, die schon in den Siebziger Jahren in Verruf geraten war. Die Analyse der Welt ist in unzählige Schulen zerfallen. Das Label Normative Ordnungen verursacht unmittelbar mit dem Hörtest ein Fragezeichen.

Traditionell folgt auf jede Aufklärung ein Schub an Gegenaufklärung, welche zu verdunkeln antritt, um frühere unfreiere Gesellschaftsverhältnisse als legitim und unausweichlich wiedereinzusetzen. Es lassen sich im Betracht der Mediendemokratie sehr wohl Paradoxien erkennen, die durchaus Fragwürdiges offenbaren. Gab es aber im menschlichen Handeln Widersprüchlichkeiten nicht schon immer? Hat eine gestaltbildende Kraft womöglich eine Bremse wie im Turmbau-Mythos zu Babel (Genesis 11,1-11) berichtet, eingebaut, um die Macht der in Großstaaten organisierten Menschheit zu brechen oder zu verwirren?

Axel Honneth gab ein aktuelles Beispiel: Trotz all dem gesteigerten Konsum von Pornoseiten im Netz muss aus „erschütternden Daten“, die erhobenen wurden, der Schluss gezogen werden, dass das sexuelle Interesse im etwa gleichem Verhältnis abgenommen hat. Den Grund hierfür halten wir für klar: Mit der Digitalisierung geht ein weiterer Zivilisationsschub einher. Dieser fordert von den ‚abhängig Beschäftigten‘, dass sie sich noch weniger einem gar so Verspielten wie der Sexualität hingeben, sondern alle Energie in den Arbeitsprozess packen.

Das war nur ein Beispiel für die Massierung von ‚Verkehrungen‘, die wahrgenommen werden. Pädagogischer und medialer Aufklärung zum Trotz ist die Neigung zu neuen Nationalismen und identitären Kohorten gewachsen. Gibt es so etwas wie ein regelmäßiges Überwechseln des Trends auf die Gegenseite. Bereits in den frühen Siebziger Jahren erlebten wir nach 1968 die Tendenzwende, die auch die Universität erfasste.

Religion, die sich zum Zivilisationsdienst versteht

Die protestantische Ethik setzte beim Glauben an, wechselte aber in die Gegenwart, als sie die reformatorische Ethik eines Calvin hervorbrachte, die das wenig christliche Gegenteil der kapitalistischen Gesinnung gebar, die sich dazu versteht, Gewinnsucht, weidliche Anhäufung irdischer Güter und den Konformismus der Mehrheit religiös unterbaut zu legitimieren, unterlegt noch durch die Prädestinationslehre.

Es trifft zu, dass die Gegenwart eine Bestätigung von Umschlägen erweist, die als Rückfall ins Irrationale ‚erdacht‘ sein könnten. Hierzu können Frustrationen und Zurücksetzungen von Teilen der Gesellschaft ein Grund sein. Hat der Geist des Kapitalismus eventuell ‚Wahlverwandschaften‘ (nach Georg Simmel) der äußerst seltsamen Art auf Lager?

Fetische (Stellvertreter) in der Politik

José Brunner, Professor an der Universität Tel Aviv, argumentiert mit Freud, wenn er die Logik des Fetischismus in der israelischen Politik und die Mystifikation in Bezug auf die Rechtfertigung der Besatzung und des militärischen Handelns anspricht. Die Rede von der einzigen perfekten Demokratie im Nahen Osten, die Israel reklamiere, sei eine Formel, die mit dem Willen einhergehe, Widersprüchliches zu integrieren. Paradoxien von magischer Wirkung integrieren die heillose Gegenwart. Dreiviertel der israelischen Juden glauben, dass auf der Westbank keine Besatzung stattfindet, die israelische Armee sei die am meisten moralische der Welt, auch wenn gerade dreißig Palästinenser durch Snipers zu Tode kamen. Sigmund Freud könnte einen Erklärungsansatz geliefert haben. Der Fetischismus des Mannes neutralisiere, mit Freud gesprochen, das Trauma des Schreckens beim Anblick des weiblichen Genitals, ‚einem Unvollkommenen‘, so komme es durch Verneinung des Anderen zur Verdrängung. Diese ist das Deckblatt der Abwehr des Unangenehmen. Der Fetisch überdeckt das, was nicht sein soll, was belästigt.

Digitale Netzmaschinen durchdringen Lebens- und Arbeitswelt

Mit dem Paradox des Privaten im Internet verbindet sich – abgesehen von der reinen Privatheit, die auch Jugendlichen durchaus wichtig ist – eine Juxtaposition von Überwachen und Selbstenthüllen. Hierzu sah sich Beate Rössler von der Universität Amsterdam befragt. Das Freiheitsversprechen des Netzes habe sich ins Gegenteil verkehrt. Sie schickt voraus: „Das Paradox der Privatheit, wonach einerseits persönliche Daten möglichst gut geschützt werden müssen und gleichzeitig Personen unbeschränkt alles von sich preisgeben, wurde in der Literatur durchweg als irrational interpretiert, als inkonsistentes Denken, das der Aufklärung bedürfe“.

Das aufgekommene Überlagern von Überwachen und Selbstvermarkten (Self-Branding) ist problematisch, mit ihm wird dem Überwachungskapitalismus Tür und Tor geöffnet, in jedem Bruchteil einer Sekunde im Netz. Das muss Folgen für die Demokratie haben. Es bleibt nur die Wahl zwischen Verweigerung oder Zynismus. Der Begriff der Surveillance meint ein großflächiges Komplettüberwachen mit Tracking und Tracing. Wer kann schon wissen, was das Smartphone alles verheimlicht. Totalüberwachung ist möglich. Bezahlt werden soll wohl bald schon einzig über Smartphone. Wer nicht mitmacht, muss in die Wälder ausweichen und sich als Trapper selbst versorgen. Skandinavier sind schon mehr dabei als die durch Erfahrung kritischer gewordenen Deutschen. Profile werden von den Maschinen erhoben, wie auch immer dilettierend - des Profits wegen, der längst gezogen ist.

Das Buch ‚Überwachungskapitalismus‘ (Shoshana Suboff), gerade neu im Angebot, informiert. Gesetze dagegen seien „praktisch nutzlos“, Daten dürften nicht verkauft werden, aber die maßgeblichen Firmen „haben ihren Sitz nicht hier“. Der eingeblendete Ausdruck ‚Privacy Policy‘ biete keinen Schutz, er diene der Ermächtigung, denn „wir können nicht checken“. Digitale Resignation also - wenn man weiß, dass man keine Kontrolle hat? Dazu Nachschauen unter Draper & Turow.

Adorno war resigniert. Er verfolgte keine Aktionsprogramme und Aktionen. Er resignierte als Denker, der er war. Warum aber machen wir das mit, fragt Beate Rössler. Das Differenzieren ist schwierig. Aber es gebe ein Bewusstsein doch noch von Grenzen dessen, was akzeptiert werde. Gegen die ‚Google Glasses‘, der Brille mit Internet und Kamera, haben sich die Konsumenten gesperrt. Sie wurde nach einem Jahr aus dem Verkehr gezogen.

Zur diesbezüglichen technologischen Rationalität schrieb Herbert Marcuse: „Die Grenzen dieser Rationalität und ihre unheilvolle Kraft erscheinen in der fortschreitenden Versklavung des Menschen durch einen Produktionsapparat, der den Kampf ums Dasein verewigt und zu einem totalen, internationalen Kampf ausweitet, der das Leben jener zugrunde richtet, die diesen Apparat aufbauen und benutzen. - Auf dieser Stufe wird klar, dass etwas mit der Rationalität des Systems selbst nicht stimmen muss. Was nicht stimmt, ist die Weise, wie die Menschen ihre gesellschaftliche Arbeit organisiert haben“. (Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied und Berlin, 1968)

Wieviel an Sein oder Schein verbirgt der Begriff Paradoxien der Gegenwart?

Im mittleren Teil war zu fragen: Haben die gesellschaftlichen Paradoxien nur mit unfertigen Demokratien oder auch mit dem Sein selbst etwas zu tun. Sind wir nur nicht genügend selbstreferentiell, um uns über Paradoxien zu verständigen? Oder gibt es gar Formationen des Geschichtsprozesses, die den Widersacher mit sich führen, damit die Gestalten des Seins gebrochen und mehr schlecht als recht transformiert werden, während das Bewusstsein schwach ist.

Die folgenden Beiträge betreffen das Subjekt in seinem Schein und Sein. Wer sich nicht viel vormacht, weiß wohl, dass Sein und Schein ineinander übergehen.

Info:
Paradoxien der Gegenwart, Eine Veranstaltung des Instituts für Sozialforschung, Schauspiel Frankfurt, Chagall-Saal, 15.12.2018

Foto:
Heinz Markert

Die Teile der Serie in WELTEXPRESSO

1. Kann die Beschreibung: Paradoxien der Gegenwart reichen, um Brechungen bislang erwartbarer Entwicklungen zu klären?
https://weltexpresso.de/index.php/wissen-bildung/14749-kann-die-beschreibung-paradoxien-der-gegenwart-reichen-um-brechungen-bislang-erwartbarer-entwicklungen-zu-klaeren
2. Transformationen der Subjektivität und Individualität
https://weltexpresso.de/index.php/wissen-bildung/14750-transformationen-der-subjektivitaet-und-individualitaet