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Kategorie: Wissen & Bildung
Gegen Rechts Musik opt DSC03347 2Paradoxien der Gegenwart: Es besteht die Sorge, dass immer mehr Staaten der Welt in ungeordnete, nicht mehr steuerbare Verhältnisse geraten  Teil 2/2

Heinz Markert

Mit ‚Schein und Sein‘ bewegen uns weiter auf dem Gebiet der Paradoxien der Gegenwart. Andreas Reckwitz knüpft an die Subjektformen der Kulturphilosophie wie sie bei Max Weber, Georg Simmel, der Frankfurter Schule und Norbert Elias herausgearbeitet wurden, an.
Gegenwärtig stellt die neue Mittelklasse ein Subjekt der Spätmoderne; dieses betreibt gewollt-ungewollt sein eigenes Ding mit dem Terminus Subjekt. Subjekt heißt immer auch: nur begrenzt. Die neuere Setzung bzw. Entwicklung des Subjekts war eine Schöpfung der aufbegehrenden Romantik, die die individualistische Kulturalisierung der Welt propagierte. Diese reicht bis in die ‚Counter-Culture‘ der Siebziger. Es handelt sich um gewissermaßen postromantische Verwirklichungen einer neuromantischen Authentizität. Hierzu gehört irgendwann auch mal eine restituierte Bürgerlichkeit und eine kantige Status-Setzung.

Selbstverwirklichung und Weiterentwicklung des Typus des Subjekts ist das Konzept. Die Suche nach dem je eigenen Prestige geschieht mit Performation, Statusarbeit und durch stete Weiterentwicklung des psychophysischen Kapitals. Der materialistische Post-Materialismus hat vor sozialem Publikum seinen eigenen Prestigewert. Hierzu dienen Auto, Haus, hohes Auskommen und nonchalantes Präsentieren in der Öffentlichkeit wie auch kulturelle Events, neues Essen, Körperübungen, die ein Prestige der Singularität signalisieren. Das lässt sich auch zu Kapital machen. Auf sozialen Märkten wird ein attraktiver Lebensstil gepflegt, als Statusinvestition. Gut macht sich die Ausgewogenheit zwischen bestimmten Bestrebungen, ein betont lässiger Lebensstil und gekonnte Außenwirkung. Aber das subjektive Erleben kann auch mal ausbleiben.
 
Juliane Rebentisch beschäftigt sich mit Konformismus und Differenz. „Im Kapitel zur Kulturindustrie in der »Dialektik der Aufklärung« bestätigen Adorno und Horkheimer ausdrücklich Tocquevilles Diagnose einer demokratischen »Tyrannei der Mehrheit«, deren Wirkung nicht in einer Unterdrückung der Körper, sondern in einem Konformismus des Denkens bestehe“. Die Begriffe Konformismus, Zynismus und Unterwerfung, eine Tripolarität, stechen zu Anfang des Vortrags heraus. Mehrpolaritäten werden gegenwärtig zur Grundlage für politische Führer der abgründigen Sorte, es muss nur ein Führer kommen, „[der] etwas Aufregendes verspricht und eine politische Struktur und Symbole anbietet, die dem Leben des einzelnen angeblich einen Sinn geben“ und der „Boden für die politischen Ziele des Faschismus“ wäre bereitet (nach Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, S. 185).
 
Eine Diagnose Adornos war, dass im Zeitalter des Konformismus alles mit Ähnlichkeit geschlagen ist, auch die betonte Individualisierung kann in ihr Gegenteil umschlagen. Nietzsche predigte das Pathos der Distance, sah gleichzeitig aber dem Sand einer sich vermittelmäßigenden Menschheit entgegen. Er sympathisierte dialektisch auch mit Ideen, die das angebliche Herdentier Mensch zu einer ausnutzbaren Arbeitskraft degradieren können, der cäsarische Geist sucht Überhöhungen seiner selbst, bei Gleichschaltung und totalitärer Inszenierung der übrigen. Die Funktion einer Spannung zwischen Mediokrität und Ausnahmehaftigkeit ist auch im liberalen Kapitalismus in Funktion.
 
Daran an knüpft Felix Trautmann. Bloß scheint es für ihn auch: die demokratische Kultur bringt tyrannische Phänomene und Gestalten hervor; die Medialisierung durch die Beraterzeit, die ein Antidot gegen totalitäre Anstellungen war, wird vom Populismus attackiert. Das Laster der Antike kehrt zurück: ausgewiesene Tyrannen versprechen neue Unterhaltung. Schon Tocqueville war ein Marktkritiker, sein Blick fiel auf die Siedlergesellschaft. Sehr amerikanisch sei die Verschränkung von Hoffnung und Neid, indessen es Neid nur unter Gleichen gibt, Nivellierung erzeugt Frustration, die nach Abfuhren drängt. So kommt es immer wieder zu Wogen an Dissonanzen, die Emotionen hochschlagen lassen.
 
Peter Wagner konstatiert die Verkehrung eines alten Versprechens. Es sei jetzt weniger Selbstbestimmung trotz einem Mehr an Demokratie. Der technologische Determinismus bringt einen Wandel der Herrschaftsform, gefolgt vom Rückgang der Erinnerung (End of History). Auch deswegen sei die Demokratie nur begrenzt zu universalisieren (sofern sie in den fortgeschrittenen Staaten auch wieder unter Druck kommt). Mit ihrem Abstieg treten Dienstleister des abgestiegenen Geistes ins Rennen. Die Unzufriedenheit bleibt über den Regierungswechsel hinaus.
 
Mit der Transformation des transnationalen Kapitalismus kommt eine liberal-demokratische Klasse zur Herrschaft. ‚Die Kommission‘ sei weit von demokratischer Praxis und Methode entfernt. Obwohl sie doch souverän waltet, geschieht beim Klima nicht das, was geschehen müsste. Die komischen Reflexe kopflos Gewordener könnten als Bestätigung der Demokratie angesehen werden. Wichtig wäre eine Fähigkeit zur Selbsttransformation, um Paradoxien begrenzt zu halten, beim Volk prosperierender Bürger*innen und bei den unteren Klassen. Abgehobene Repräsentierende werden von den Repräsentierten als für das Großkapital eintretend erkannt, es entstehen Überzeugungen aufgrund zunehmender sozialer Ungleichheit. Der Brexit wird von einer Vielzahl an disparaten Meinungen eskortiert.

Das Missverhältnis von rechtlicher Gleichheit und ökonomischer Ungleichheit

Hiermit war ein wesentlicher Umstand angesprochen, der aber leicht unterzugehen drohte, weil er nicht mit Furor in Hinsicht des Heiklen bedacht wurde. Die soziale Ungleichheit ergibt sich wesentlich aus dem Eigentumsrecht des bürgerlichen Betriebs. Das ermöglicht, dass Menschen auf dem Betriebsgelände einem anderen gehören, was sowohl gegen das Naturrecht als auch gegen die menschliche Würde verstößt. Das betriebliche Eigentumsrecht entstammt einem Rechtskonstrukt der frühbürgerlichen Periode. Die Klassen, die traditionell über die Produktionsmittel verfügen, sind nicht imstande sich der Diskrepanz zwischen menschenrechtlichem Gleichheitsanspruch und einer Wirklichkeit, die von der unwirtlichen Ungleichheit des Menschen bestimmt ist, zu stellen. Im Nachkriegsdeutschland galt zunächst die Überzeugung, dass die auf den Einen, den Boss oder Anteilseigner bezogene eigentumsrechtliche Produktionsweise den Interessen der abhängig Beschäftigten nicht gerecht geworden ist, mit all den schrecklichen Folgen, die damit verbunden waren.
 
Marie Diekmann (Institut für Sozialforschung, Frankfurt am Main) besprach nach fachlichen Überleitungen durch Klaus Günther (Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie) diese ins Zentrum gestellte Problematik, die besagt: „Aus einer demokratischen Perspektive stellt die Diskrepanz zwischen formeller Gleichheit der Menschen im Recht und faktischer Ungleichheit in der Ökonomie ein Problem dar“. Diese bewegen sich um den Brennpunkt von gesetztem Arbeits- und Unternehmensrecht und der Forderung nach legitimer Wirtschaftsdemokratie. Bezogen auf den langen Zeitraum, in dem das Arbeitsrecht Fuß fasste, lässt sich sagen, „dass die Etablierung des sozialen Arbeitsrechts nicht auf Dauer erfolgreich ist“. Die Lockerungen der neoliberalen Ära führten dazu, dass eine ganze Partei, die für 'die Arbeitnehmerrechte‘ stand, heute vor dem Ruin steht, weil sie die Entwicklung zurückgedreht hat.
 
Der Idee von Menschheit entsprechend sind alle Menschen frei und gleich. Es kommt zum Umschlag, wenn die Gleichheitskonzepte nach Klassen als unvereinbar behauptet werden. Auf die für evident gehaltene Egalitätsvorstellung folgt die Selbstbezüglichkeit einer Klasse, die sich allein durch Besitzansprüche und prosperierende Verhältnisse definiert. Als Bürger gilt nur noch der, der Geld und Vermögen hat. Gleichheit wird an einem an sich Sonderbaren festgemacht, wonach der Verfassung gemäß es sich verbiete, dass die Freien und Gleichen unter Brücken schlafen.
 
Zunehmend blieb durch die auseinanderstrebenden Narrative die Sozialbeziehung „unerfüllt, uneingelöst“. Geld habe man zu haben, das verstehe sich von selbst, andernfalls ist man unten durch. Ein jeder hat es im Bekanntenkreis schon mitbekommen: kommt die Miete etwas zu spät, könnte die Wohnung schnell verloren gehen, Kündigung droht und ein Paragraph wacht unerbittlich darüber. Neuerdings sind anarcho-syndikalistische Konzeptionen im Studierendenmilieu angesagt und wieder im Kommen. Die grundrechtliche Sozialbindung des Eigentums steht hierfür Pate, stets schon war die Nichteinlösung zu bemängeln. Die sensationelle Klage gegen KIK, infolge des tödlichen Preises der billigen Kleidung, mit dem verheerenden Brand in der Fabrik eines KIK-Zulieferers in Pakistan, die beim Landesgericht Dortmund verhandelt wird, könnte zum Musterprozess werden, dem andere folgen. Die Sorgfaltspflicht für Unternehmen bei Auslandsinvestitionen, genauer gesagt: im Umgang mit Abhängigkeit, muss unumgehbar verankert werden.
 
Warum gehören Unternehmen nur denen, die sie besitzen und nicht auch denjenigen, die in ihnen arbeiten?
 
Ob denn wohl die Opel-Arbeiter*innen, Opel-Angestellten und Opel-Entwicklerinnen nicht besser wissen, was für Opel gut ist, statt Manager, die auf fernen Kontinenten sitzen und den Daumen nach oben oder nach unten richten? Das Arbeitsrecht muss dem sozialen Gleichheitsversprechen untergeordnet werden, ohne Austrittsklausel: Verträge auf der Höhe gleichwertiger Menschen, Koalitionsfreiheit, Kündigungsschutz, Tarifbindung (Ausschluss der Tarifflucht), Arbeitsschutznormen, diskriminierungsfreie Bezahlung, innerbetriebliche Mitbestimmung - die jegliche Kompetenz einschließt und 'Anti-Kartell' (Marktgleichheit). Dem entgegen steht, dass die Akteure inhomogener geworden sind, Pluralität hat die Beteiligten ausdifferenziert, entsolidarisiert und sich fremd werden lassen. Auch das gehört zur Paradoxie: dass Interessen zum Anlass von Spaltung werden, obwohl die gemeinsamen Interessen Abhängiger durch die Macht der Wirtschaft über die Politik immer ähnlicher geworden sind.
 
Anlässlich der Bezugnahme auf das Theorie-Konzept der ‚Normativ Orders‘ der Universität Frankfurt am Main wäre einzuwenden, dass diese Begrifflichkeit zu allgemein gehalten ist und sie daher hörbar zu sehr nach Integration von Unversöhnlichem schmeckt.

Info:
Paradoxien der Gegenwart, Eine Veranstaltung des Instituts für Sozialforschung, Schauspiel Frankfurt, Chagall-Saal 15.12.2018
 
Foto:
Heinz Markert ('Music is the Answer' auf dem Frankfurter Goethe-Platz, war verbunden mit Rock gegen Rechts auf dem Opernplatz am 01.09.2018)

Die Teile der Serie in WELTEXPRESSO

1. Kann die Beschreibung: Paradoxien der Gegenwart reichen, um Brechungen bislang erwartbarer Entwicklungen zu klären?
https://weltexpresso.de/index.php/wissen-bildung/14749-kann-die-beschreibung-paradoxien-der-gegenwart-reichen-um-brechungen-bislang-erwartbarer-entwicklungen-zu-klaeren
2. Transformationen der Subjektivität und Individualität
https://weltexpresso.de/index.php/wissen-bildung/14750-transformationen-der-subjektivitaet-und-individualitaet