Foto Daniela ReskeInterview mit der Therapeutin Christina Sogl

Barbara Altherr

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Krisenzeiten bieten auch viele Chancen - das gilt individuell und kollektiv. Derzeit leiden viele Menschen unter Angst. Die Krankheit ist eine Bedrohung und auch die berufliche und finanzielle Situation ist für viele Menschen eine Quelle von Sorgen. Die Einschränkungen, die notwendig sind, damit sich das Virus nicht unkontrolliert ausbreiten kann, erzeugen bei manchen Menschen auch Wut. Gebote wie Abstandhalten und Masken-Pflicht sind allerdings meist nicht die wirklichen Gründe dafür, sondern lediglich Auslöser, auch Trigger genannt.

Die Gefahr liegt darin, dass unreflektierte Emotionen gesellschaftliche Auswirkungen haben und Spaltung und Konfrontationen verursachen können. Statt gemeinsam die Chancen zu nutzen, geht dann leider viel Energie durch Konflikte verloren. Um unter die Oberfläche dieser Themen zu schauen und Lösungsansätze zu erarbeiten, geht es im Interview mit der Therapeutin Christina Sogl radikal in die Tiefe.


Was ist aus Ihrer Sicht in Corona-Zeiten besonders wichtig?

Foto Daniela Reske 2Die emotionale Selbstregulation von Angst und Wut. Die reale und existenzielle kollektive Bedrohung – egal ob über den unmittelbaren Verlust des Lebens durch die Infektion oder der finanziellen und gesellschaftlichen Lebensgrundlage – fordert uns bis in die Grundfesten unseres Seins. In meinen Augen ist das, was gerade an Spaltung in unserer Gesellschaft zu sehen ist, nicht in erster Linie Ausdruck mangelnder intellektueller Kompetenz, sondern fehlender Fähigkeit der Angstregulation in komplexen Situationen. Der Intellekt kann dabei zwar helfen, aber wenn die Angst zu groß wird, lässt sie die Wahrnehmung selektiv werden und blockiert die Denkfähigkeit. Dann hilft auch Bildung nicht mehr weiter, weil das Großhirn viel zu langsam ist im Vergleich zum viel älteren Säugetiergehirn. Wenn wir existenzielle Angst haben und keinen Ausweg sehen, fangen wir an, Schuldige zu suchen und sie zu attackieren, in der Hoffnung, dann wären wir die Angreifer los. Tatsächlich erschafft unsere traumatische Angst sie immer wieder aufs Neue. Die kollektive Aufgabe „Corona“ ist nach der Klimakatastrophe, der Flüchtlings-Problematik und der weltweiten Zunahme populistischer Strömungen die vierte massive Konfrontation mit den kollektiven Folgen verdrängter Traumatisierungen.


Sie sind Spezialistin für psychosomatische, Schmerz- und Trauma-Patienten. Wie war Ihr Entwicklungsweg?

Mein Leben ist von Anfang an von der Suche nach Verbindung von (scheinbaren) Gegensätzen geprägt: von Körper (Geist) und Seele, Konflikt und Trauma, Psychologie und Pädagogik, Psychotherapie und Coaching, Wissenschaft und Spiritualität. Nach dem Abitur studierte ich Psychologie mit dem Schwerpunkt Psychosomatik. Unmittelbar im Anschluss ans Studium entdeckte ich die psychoanalytisch fundierte Körpertherapie. Ich bekam zwei Söhne, die wichtige Lehrer für mich wurden: darin, was zu einem entwicklungsförderlichen Umfeld gehört. So wurde ich sensibel für Facetten struktureller Gewalt in unserer Geburtskultur und im Schulsystem, entschied mich für Hausgeburten und gründete mit anderen zusammen eine Schule. Mit der Entdeckung der Gewaltfreien Kommunikation erkannte ich unsere Sprache als weiteres Symptom struktureller Gewalt. Dann begann ich das Studium der Psychoanalyse, glücklicherweise vorgeprägt durch den absolut unkonventionellen Ansatz, der den Körper und Berührung integriert. Ein paar Jahre baute ich eine Station für Psychotherapie und Psychosomatik mit integrativem Ansatz mit auf und wurde dort schnell zur Spezialistin für psychosomatische, Schmerz- und Trauma-Patienten. Seit dem Abschluss meines Psychoanalysestudiums mit Approbation bin ich in eigener Praxis im medizinischen Versorgungssystem, aus der ich jetzt nach wenigen Jahren schon wieder aussteige. Ich habe mir mit meiner Ausbildung zur Psychoanalytikerin einen uralten Traum erfüllt – um zu merken, dass er nur der Auftakt zu etwas noch viel Größerem war. Ich kann und will nicht mehr in dem so begrenzten Wirkraum meiner Praxis unsichtbar bleiben, sondern das, was in unserem System ohnehin nicht psychotherapierichtlinienkonform ist, mehr Menschen zur Verfügung stellen.


Welche neuen Ansätze haben Sie entwickelt?

Diese potenzierte Kraft aus der Tiefenschärfe moderner Psychoanalyse, Bindungsforschung und Trauma-Wissen auf der einen Seite sowie der Einfachheit und Wirkmacht des Körpers in der Berührung auf der anderen Seite ist ein enorm machtvolles Handwerkszeug für Trauma-Heilung und Veränderung. Ich trete an für eine ekstatisch-sinnliche Kultur der Wahrhaftigkeit, des Vertrauens, in der Liebe und Sexualität keine Gegensätze mehr sind, sondern in einer schamfreien und intimen Begegnung zusammenfinden. Mit Intimität meine ich hier nichts im engeren Sinne Sexuelles, sondern das Wagnis der Wahrhaftigkeit. In den Seminaren und Kursen, die ich live und online anbiete, habe ich mein erweitertes einzeltherapeutisches Handwerkszeug auf Gruppen übersetzt und mache es so großflächig zugänglich und erschwinglich. Die Einbeziehung des Körpers und von Berührung ermöglicht tiefgreifende Entwicklung in relativ gesehen sehr kurzer Zeit, ohne dass sie nur oberflächlich auf brüchigem Grund bleiben. Es ist eine lust- und freudvolle ebenso wie ressourcenorientierte Art, sich den eigenen biografischen und kollektiven Abgründen zu nähern. Jeder Schritt weitet unseren Raum nicht nur für das Dunkle, sondern gleichzeitig für Lebendigkeit und Ekstase – die Voraussetzung für friedliche Existenz.


Welche Vision möchten Sie verwirklichen?

Ich versuche, meine Kraft nicht im Kampf gegen das Bestehende zu erschöpfen, sondern sie mit der Kraft anderer mutiger Menschen mit derselben Vision zusammenzutun und so leichter neue Strukturen außerhalb der alten zu schaffen, die die alten mit der Zeit ablösen, weil sie einfach lebensdienlicher sind. Was für einen Menschen allein unmöglich ist, ist in Gemeinschaft zumindest möglich, und je größer die Gemeinschaft ist, desto leichter wird es. Ich möchte Keimzellen von Gemeinschaft entstehen lassen, in denen wir mutig gemeinsam das Wagnis der Offenheit mit allem, auch dem Wagnis der Berührbarkeit und Verletzlichkeit eingehen, um uns erst dann immer besser ineinander erkennen zu können.


Wird es aus Ihrer Sicht durch Corona große Veränderungen geben, eventuell einen Paradigmenwechsel?

In meinen Augen sind wir gefordert, uns aus alten Strukturen, die nicht mehr zeitgemäß sind, herauszuschälen und Dinge in eine für alle lebensdienliche und damit nachhaltige Richtung zu verändern: Dank Internet auf unnötige Mobilität zu verzichten und damit die Umwelt zu entlasten, für unsere eigenen Gefühle Verantwortung zu übernehmen, unser gegenseitiges Angewiesensein aufeinander fürs Überleben zu realisieren, immer wieder neu flexibel Schutzmaßnahmen in ihrem Potential gegen ihre Schattenseite abzuwägen, gleichzeitig Täter und Opfer in uns zu erkennen und zu integrieren, uns hinter so viel virtueller Vereinzelung und kompensatorischem Konsum wieder an unsere ursprünglichen menschlichen Bedürfnisse zu erinnern und sie bewusster und empathischer mit uns selbst und anderen zu verfolgen. Dann können aus kulturell bedingtem Selbsthass Selbstliebe, Vertrauen und Liebe werden.


Wenn Sie Ihre Botschaft in einem Satz zusammenfassen solltest – wie lautet er?

Wage radikale Offenheit, Verletzlichkeit und Konfrontation mit Trauma in Form von Angst, Scham und Schuldgefühl. Wage es, zu lieben – weil es keine lebensdienliche Alternative mehr gibt.

Fotos:
© Daniela Reske