Lockdown TagebuchÜber herbeigeredete Krisen-Traumata

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Der Lockdown entlässt seine Kinder - anscheinend ins Elend, wie Ideologen meinen.

Denn wegen der Corona-bedingten Auszeit drohe Schülern aller Altersstufen das Aus – psychisch und auch sonst. So die Meinung einiger Bildungsexperten. Sie malen das Bild einer verlorenen Generation ohne Zukunft an die Wand, deren Perspektivlosigkeit in dem Vers von Ernst Jandl verkürzt, aber treffend beschrieben scheint: Nullen, denen man sogar noch ein Pfui hinterherruft.

Parallel dazu konkretisieren Forscher, die von mächtigen Wirtschaftsverbänden bezahlt werden, die angebliche Ausweglosigkeit. Nach einem knappen Jahr mit Homeschooling, permanentem Lüften beim Präsenzunterricht und drastischer Freizeitregulierung seien Karrierenachteile, Einkommensverluste und letztlich Altersarmut höchstwahrscheinlich. Die Apologeten des Neoliberalismus überbieten sich mit kaum belegbaren Prophezeiungen, die apokalyptische Ausmaße annehmen. Und kehren auf diese Weise die Grundprobleme der deutschen Bildungsmisere sowie des vielerorts herrschenden Arbeitsalltags unter den Teppich des Schweigens.

Kein Wort über bewusst unterfinanzierte Schulen, mangelhafte Talentförderung, fehlende Rezepte gegen die bedrohliche Bildungsferne eingewanderter sowie sozial benachteiligter Familien, befristete Arbeitsverträge trotz akademischer Qualifikationen und sklavenähnliche Leiharbeit. Ebenso wird hingenommen, dass die Digitalisierung eines weitaus höheren Allgemeinbildungsniveaus bedarf, als es die Sonderschule vermittelt. Letzteres wird lediglich dem von Facebook & Co begleitetem Konsumenten gerecht.
Man gewinnt den Eindruck, als hätten sich während des Lockdowns sämtliche nur denkbaren Katastrophen, von Verdun über Stalingrad, die NS-Vernichtungslager bis zu Hiroshima, erneut und binnen kürzester Zeit ereignet und Millionen junger Menschen Leben, Gesundheit und Perspektiven gekostet.

Doch das Gegenteil ist der Fall. Der Lockdown, also das Minimieren persönlicher Kontakte, war der Versuch, in öffentlichen und privaten Bereichen Achtsamkeit und Rücksicht einzuüben. Mit dem Ziel, dass angesichts einer pandemischen Seuche möglichst vielen Gesundheit und Leben erhalten bleiben sollten und sollen. Dieser Versuch ist noch nicht abgeschlossen. Denn das Virus grassiert weiter, vermochte sogar, noch ansteckendere und möglicherweise noch gefährlichere Mutanten hervorzubringen. Um die zivile Disziplin war und ist es zudem nicht gut bestellt. Sowohl menschenverachtende organisierte Querulanten als auch der unverantwortliche Leichtsinn eines nennenswerten Teils der Mitbürger haben bereits jetzt über 50.000 Tote gefordert. Und die Anzahl derer, die unter gesundheitlichen Langzeitfolgen werden leiden müssen, lässt sich noch nicht quantifizieren.

Es lässt sich aber auch nicht bestreiten, dass insbesondere Schüler belastet sind, weil sie mangels Lebenserfahrung das Gewirr der sich widersprechenden Informationen bzw. Desinformationen nicht in jedem Fall zu durchschauen vermögen. Wer während der so genannten normalen Verhältnisse bereits häufiger an die Grenzen seiner psychischen Belastbarkeit geriet, zeigt in Ausnahmesituationen häufig Auffälligkeiten. Dem nicht seltenen Frust über Eltern, Lehrer und dissoziales Verhalten von Gleichaltrigen hat Corona jetzt noch eine Krone aufgesetzt. All dieses hat das Leben nicht einfacher gemacht. Aber es gibt keinen Anlass für Mutlosigkeit, Verzweiflung oder zur Kapitulation. Hinter den jungen Menschen wird, wenn sich Lage entspannt hat, ein außergewöhnliches Jahr liegen. Eines, das zu wegweisenden Erkenntnissen führen könnte. Selbst dann, wenn die Betroffenen es rein schulisch abschreiben müssten. Doch es gibt Schlimmeres. Denn das vermeintliche Scheitern ganzer Jahrgänge beinhaltet auch Chancen für Neuanfänge. Und keineswegs das Abgehängtsein, wie es vorrangig die proklamieren, welche zur Ausbreitung der Pandemie entscheidend beigetragen haben. Profitgeier aus der Wirtschaft, Politiker, die permanent in Selbstsüchtigkeit und Profilneurose verfallen sowie die gesellschaftliche Dummheit, für die Katastrophen eine Art Hochzeit sind.

Noch ist niemand verloren. Nicht die Schüler, nicht die Eltern, nicht die gesamte Gesellschaft. Und darum sollten sie sich keine Dummheiten einreden lassen.

Foto:
Das Lockdown-Tagebuch eines Schülers
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