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Kategorie: Wissen & Bildung
Bildschirmfoto 2022 05 10 um 02.30.53Am 11. Mai 1952  schossen Polizisten der Bundesrepublik erstmals mit scharfer Munition auf Demonstranten, Teil 2/11

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) - Die Öffentlichkeit hatte bis dahin – abgesehen von den Lesern der kommunistischen Presse – von der geplanten Kundgebung keinerlei Kenntnis. Das änderte sich, als der Nordwestdeutsche Rundfunk am 9. Mai, zwei Tage vor der Veranstaltung, in den Abendnachrichten um 19 Uhr meldete, der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Karl Arnold (CDU), der zugleich Ministerpräsident war, habe das offiziell so bezeichnete Westdeutsche Treffen der Jungen Generation und die damit verbundene Jugendkarawane verboten. Bei dem Treffen, so wurde verlautbart, handle es sich um ein von Kreisen der KPD und der FDJ gesteuertes Unternehmen.

Da am 11. Mai in Essen mehrere größere Veranstaltungen stattfänden, bestehe die Gefahr eines unfriedlichen Verlaufs, so dass vor einer Teilnahme an der Jugendkarawane gewarnt werden müsse.

Was war geschehen? Dass die Stadt Essen ihr 1100-jähriges Jubiläum beging, dass die Gartenbauausstellung ›Gruga‹am selben Tag ihre Pforten öffnen und die Christliche Arbeiterjugend einen »Europakongress« abhalten würde, war seit langem bekannt. Niemand hatte daraus Einwände hergeleitet. Aufgescheucht von der Rundfunkmeldung eilte der Theologiestudent Haumann am Morgen des 10. Mai in das Essener Ordnungsamt. Dort stieß er auf einen Beamten, der auch nur die Rundfunkmeldung kannte. Erst ein zweiter stellte klar, dass tatsächlich aus sicherheitspolizeilichen Gründen ein Verbot verhängt worden sei; die schriftliche Verfügung könne gegen Mittag abgeholt werden.

Was hatte den Innenminister bewogen, die Jugendkarawane zu verbieten? Plagte ihn die Sorge, nicht genug Polizeikräfte zur Verfügung zu haben, um einen friedlichen Verlauf zu gewährleisten? Sollte verhindert werden, dass die verbotene FDJ sich – wieder einmal – in Szene setzte? War die Autorität des Staates in Gefahr? Oder spielten am Ende hochpolitische Erwägungen eine Rolle? Am 26. Mai sollte der Generalvertrag unterzeichnet werden. Wollte Karl Arnold seinem Parteifreund Adenauer die peinliche Begleitmusik ersparen? Wie auch immer – zuständig für das Verbot war der Rat der Stadt Essen. Im »Einvernehmen mit dem Herrn Innenminister « teilte er den Veranstaltern mit, die vorhandenen polizeilichen Kräfte reichten nicht aus, um einen reibungslosen Verlauf der angemeldeten Veranstaltung zu gewährleisten; deshalb werde sie zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gemäß § 14 des Polizeiverordnungsgesetzes verboten.

Wie kam es, dass der Rundfunk früher als die Veranstalter von dem Verbot wusste, und wie verschaffte sich der Regierungschef eines Bundeslandes Zugriff auf die Mikrofone? Rechtsgrundlage des Nordwestdeutschen Rundfunks war seinerzeit die Verordnung Nr. 118 der britischen Militärregierung von 1949. Sie enthielt keine ausdrückliche Regelung über ein Verlautbarungsrecht für amtliche Mitteilungen. Folglich hatte der Ministerpräsident keine rechtliche Handhabe, das Verbot einer Kundgebung über den Rundfunk bekannt zu machen. Ein Gespräch mit dem Intendanten des NWDR genügte, um alle Hindernisse zu beseitigen. Dem politischen Zugriff auf die Massenmedien seien in einer Demokratie Grenzen gesetzt, meinte zu Beginn der siebziger Jahre der Publizistikwissenschaftler Harry Pross in seinem Buch »Mitteilung und Herrschaft«.

Eine euphemistische Einschätzung. Die Unabhängigkeit des Rundfunks vom Staat war immer ein Trugbild. Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen 
bekannte später: »Die Rundfunkwarnung ist im Einvernehmen mit dem Ordnungsamt Essen von mir persönlich veranlasst worden.« Was die beteiligten Journalisten betrifft, so waren sie offensichtlich weit davon entfernt, den Vorgang kritisch zu hinterfragen. Niemanden interessierte es, ob das Verbot gerechtfertigt war oder nicht. Erst sehr viel später, als Teilnehmer des Treffens strafrechtlich belangt werden sollten, wurde die Frage relevant.
(Fortsetzung folgt).

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Info:
Nach dem Krieg gründete die britische Besatzungsmacht für ihre Länder, einschließlich West-Berlins den  Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR).  Er war eine deutsche öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt mit Sitz in Hamburg. Zuständig für die Versorgung mit Rundfunkprogrammen in den Ländern Hamburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen.  Der NWDR bestand bis zum Jahreswechsel 1955/56, als die beiden selbständigen Rundfunkanstalten NDR und WDR gegründet wurden.

Auszug aus „Gegen den Wind“, vom selben Verfasser. PapyRossa Verlag, 2017