kn philippmuller0Serie: ANATOMIE EINES LÜGENKOMPLOTTS, Teil 1/8

Conrad Taler

Bremen (Weltexpresso) - Am 2. Juni 1967 wurde der Student Benno Ohnesorg in Berlin während einer Demonstration gegen das Regime des Schahs von Persien von einem Polizisten erschossen. Rundfunk und Fernsehen nehmen den 50. Jahrestag des Ereignisses mit Recht zum Anlass einer ausführlichen Darstellung des damaligen Geschehens. Benno Ohnesorg gilt als erstes Todesopfer polizeilicher Gewalt in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik. Tatsächlich aber wurde bereits 15 Jahre davor, am 11. Mai 1952, ein Demonstrant in Essen bei einer Kundgebung gegen die deutsche Wiederbewaffnung von einer Polizeikugel tödlich getroffen. Namhafte Blätter wie das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ und die Wochenzeitung „Die Zeit“ schwiegen das Ereignis tot. Das Opfer gehörte der verbotenen kommunistischen Freien Deutschen Jugend“ an. Sein Name: Philipp Müller.

Conrad Taler war als Journalist Augenzeuge des Geschehens. In seinen soeben unter dem Titel „Gegen den Wind“ erschienenen Lebenserinnerungen beschreibt er die daraus erwachsene erste große Propagandaschlacht des Kalten Krieges zwischen Ost und West, die wir hier als Serie veröffentlichen. Die Redaktion


ANATOMIE EINES LÜGENKOMPLOTTS

Medien und Staatsgewalt (Teil 1)

»Wissen wir auch nur von einer einzigen Schlacht, wie sie sich wirklich abgespielt hat«, fragt Gustave Le Bon in »Psychologie der Massen«, und er antwortet darauf in einer Fußnote zum Kapitel »Beeinflussbarkeit und Leichtgläubigkeit der Massen«: »Ich zweifle sehr daran. Wir kennen nur Sieger und Besiegte, aber wahrscheinlich weiter nichts.“ Das las ich zu Beginn meiner Suche nach der Wahrheit über ein Ereignis, das als Lehrstück der Desinformation bleibendes Interesse verdient: Das verbotene Essener Jugendtreffen gegen die deutsche Wiederbewaffnung vom 11. Mai 1952, bei dem erstmals nach Kriegsende ein Demonstrant von der Polizei erschossen wurde.

Anders als der Name des Studenten Benno Ohnesorg, der 15 Jahre später, am 2. Juni 1967, in Berlin bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien von einer Polizeikugel getötet wurde, ist der Name dieses Toten weitgehend unbekannt. Als Polizisten den leblosen Körper Philipp Müllers vor den Kruppschen Krankenanstalten in Essen aus einem Lautsprecherwagen luden, will eine Augen- und Ohrenzeugin gehört haben, dass einer der Beamten sagte: »Das Schwein ist schon tot«.

In Zeiten wie diesen von einem einzigen Toten zu sprechen, mag unangemessen erscheinen, aber mitunter gerinnt ein Stück Zeitgeschichte zum Namen eines Einzelnen. Der 21jährige Eisenbahnarbeiter Philipp Müller aus München-Neuaubing gehörte der Freien Deutschen Jugend (FDJ) an, die im Jahr davor als verfassungswidrige Organisation verboten worden war. Ihr wurde unter anderem vorgeworfen, sich an einer von den Kommunisten organisierten Volksbefragung gegen die Remilitarisierung beteiligt zu haben. Wie tief damals das Unbehagen über die Pläne zur Aufstellung deutscher Streitkräfte saß, offenbarte der Wunsch des Bundespräsidenten Theodor Heuß, das Bundesverfassungsgericht möge ein Rechtsgutachten über die Vereinbarkeit der Gesetze zur Einführung der Wehrpflicht mit dem Grundgesetz erstatten.

Als die Karlsruher Richter mit taktischen Winkelzügen reagierten, zog Heuß seinen Antrag – sichtlich verärgert – zurück. Die SPD verlangte 1952 vom Bundesverfassungsgericht die »vorbeugende Feststellung«, dass ein Gesetz über die Wiederbewaffnung »ohne vorangegangene Ergänzung und Abänderung des Grundgesetzes weder förmlich noch rechtlich“ mit dem Grundgesetz zu vereinbaren sei. Das Gericht wies den Antrag als unzulässig zurück, »da die gesetzgebenden Körperschaften ihre Beratungen noch nicht abgeschlossen« hätten.

In der öffentlichen Diskussion firmierten die vertraglichen Abmachungen über die Wiederbewaffnung unter der Bezeichnung Generalvertrag. Mit der Parole »Friedensvertrag statt Generalvertrag« bewegten sich die Initiatoren der Essener Veranstaltung nicht auf abseitigem Gelände. Die Idee einer Jugendkarawane für den Frieden, die in den »Darmstädter Aktionsgruppen« um den Studentenpfarrer Herbert Mochalski entstanden war, fand großen Anklang. Der Bundesfeldmeister der deutschen Pfadfinder, Werner Plaschke, wollte ebenso sprechen wie der hessische Landesvorsitzende der »Falken«, Rudi Arndt, und der aus Protest gegen Adenauers Eigenmächtigkeit in Sachen Wiederbewaffnung zurückgetretene CDU-Innenminister und spätere Bundespräsident Gustav Heinemann.

Als Leiter der Kundgebung auf dem Essener Gerlingplatz sollte der Theologiestudent Arnold Haumann fungieren. Die Dortmunder Staatsanwaltschaft sprach später von einem »zunächst parteipolitisch farblosen Unternehmen«, das von gut ausgebildeten Funktionären in eine Demonstration der FDJ umgefälscht worden sei. Bei der Anmeldung des Treffens am 8. Mai gab es gleichwohl keine Probleme. Haumann informierte das Essener Ordnungsamt, dass etwa 20.000 Teilnehmer erwartet würden und bat »höflichst« um die erforderlichen Maßnahmen zum Schutz der Veranstaltung.

Die Öffentlichkeit hatte bis dahin – abgesehen von den Lesern der kommunistischen Presse – von der geplanten Kundgebung keinerlei Kenntnis. Das änderte sich, als der Nordwestdeutsche Rundfunk am 9. Mai, zwei Tage vor der Veranstaltung, in den Abendnachrichten um 19 Uhr meldete, der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen,

Karl Arnold (CDU), der zugleich Ministerpräsident war, habe das offiziell so bezeichnete Westdeutsche Treffen der Jungen Generation und die damit verbundene Jugendkarawane verboten. Bei dem Treffen, so wurde verlautbart, handle es sich um ein von Kreisen der KPD und der FDJ gesteuertes Unternehmen. Da am 11. Mai in Essen mehrere größere Veranstaltungen stattfänden, bestehe die Gefahr eines unfriedlichen Verlaufs, so dass vor einer Teilnahme an der Jugendkarawane gewarnt werden müsse.

Was war geschehen? Dass die Stadt Essen ihr 1100jähriges Jubiläum beging, dass die Gartenbauausstellung ›Gruga‹ am selben Tag ihre Pforten öffnen und die Christliche Arbeiterjugend einen »Europakongress « abhalten würde, war seit langem bekannt. Niemand hatte daraus Einwände hergeleitet. Aufgescheucht von der Rundfunkmeldung eilte der Theologiestudent Haumann am Morgen des 10. Mai in das Essener Ordnungsamt. Dort stieß er auf einen Beamten, der auch nur die Rundfunkmeldung kannte. Erst ein zweiter stellte klar, dass tatsächlich aus sicherheitspolizeilichen Gründen ein Verbot verhängt worden sei; die schriftliche Verfügung könne gegen Mittag abgeholt werden.

Fortsetzung folgt


Foto: (c)

Info:Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors aus:  Conrad Taler, Gegen den Wind, Geschichten und Texte zum Zeitgeschehen 1927 – 2017, PapyRossa-Verlag, Köln 2017