a ratzingerEin Blick zurück bestätigt die Vermutung

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Joseph Kardinal Ratzinger, der spätere Papst Benedikt VI, ermahnte am 4. August 1984 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ die Katholische Kirche und ihre Gläubigen zum „Mut zur Unvollkommenheit und zum Ethos“.

Ratzingers Thesen lösten in der liberalen theologischen Szene heftige Widersprüche aus. Meine Einrede, die am 31. August 1984 in der FAZ veröffentlicht wurde, lautete:

Kardinal Ratzingers philosophisch-theologische Betrachtung war vermutlich adres­siert an das strukturkonservative Bürgertum katholischer Observanz, das sich in einer rasch wandelnden Gesellschaft von Verdrängungsängsten gequält fühlt und nach Selbstbestätigung sucht. Bestätigung des eigenen Selbst aber liegt sehr dicht bei Selbstgerechtigkeit. Und genau um diese geht es; Selbstgerechtigkeit einer Kirche, einer Bevölkerungsschicht und einer Gesellschaftsordnung, die sich allesamt als der Weisheit letzter Schluss empfinden.

Ratzinger hat damit sowohl seiner Kirche als auch seiner laizistischen Klientel schlechte Argumente geliefert. Der katholische Kirchenfürst hätte vielleicht einmal die Gedanken des evangelischen Pfarrers Dietrich Bonhoeffer bedenken sollen, der den Begriff der „billigen Gnade“ in die theologische Diskussion gebracht hatte. „Billige Gnade ist der Todfeind unserer Kirche“, schrieb jener aus der NS-Haft, „billige Gnade heißt Rechtfertigung der Sünde und nicht des Sünders...billige Gnade ist die Gnade, die wir mit uns selbst haben“ (Nachfolge).

Möglicherweise aber ordnet Joseph Kardinal Ratzinger Bonhoeffer in die Kategorie des von ihm so benannten „scheinbaren Moralismus“ ein, „der sich nur mit dem Vollkommenen zufrieden geben will“ und deshalb von ihm unmoralisch geheißen wird. Dabei hätten ihn aber schon beim Stichwort „Vollkommenheit“ Zweifel plagen müssen, kann er doch bei Matthäus nachlesen (Kap.5, Vers 48): „Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“

Überdies befürchtet der Kardinal, dass „der Wahrheitsanspruch des Christ­lichen...sich zur politischen Intoleranz steigern“ könnte. Er schildert die Unzulänglichkeiten christlicher Theokratie-Entwürfe und verkündigt mit kühnem Federstrich, dass die „Demokratie ein Produkt aus der Verschmelzung von griechischem und christlichem Erbe“ sei und „daher auch nur in diesem Gründungszusammenhang überleben“ könnte.

Das ist historisch falsch, aber der Kardinal scheint es für wahr und vor allem für richtig zu halten und somit bindet er das weltliche Reich Gottes an den Bestand einer Gesellschaftsordnung, die ihre Existenz nicht allein den antiken Staatsentwürfen und schon gar nicht den Kirchenvätern als vielmehr wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen verdankt, deren Triebkräfte Industrialisierung und menschliche Selbstbefreiung heißen und deren säkularer Grundzug unübersehbar ist. So scheint Kirche nach dieser offiziösen katholischen Stellungnahme nur als Produkt historischer Erfahrung (festgemacht an ihrer Leitung), aber nicht mehr als Nachfolge gedacht zu werden.

Wer so denkt, muss dem Neuen Testament zwangsläufig jede politische Theologie absprechen, denn für ihn gilt ja die Umkehrung: Die politischen Verhältnisse bringen ihre jeweilige systemlegitimierende und systemstabilisierende Theologie hervor. Der Staatsmann als Hoher Priester und umgekehrt.

Sicherlich beinhaltet das Neue Testament keine systematisch ausgebildete politische Theorie und ich behaupte sogar, dass es noch nicht einmal eine einheitliche Theologie aufweist. Kennzeichnend für diese Sammlung von Glaubenszeugnissen ist ja ihre Disparatheit, wie der evangelische Theologe Herbert Braun treffend urteilte. Allerdings fällt immer wieder der Bezug zur irdischen Welt auf: Der geglaubte Gott offenbart sich in einem Vorgang der menschlichen Geschichte, dadurch erfährt das Diesseits eine Heilsbedeutung; denn Gottes „Wille geschehe im Himmel wie auf Erden“.

Und: Das Gebot der absoluten Nächstenliebe zielt auf diese Welt, es umfasst die gesamte Wirklichkeit menschlicher Lebensgestaltung. Es fordert die besagte „ethische Anstrengung“, die aber nicht – wie Ratzinger meint – statisch bleibt, sondern einen dynamischen Prozess in Bewegung setzt, welcher wiederum Strukturen hervorbringt, die die Hoffnungen der Gläubigen (und der Ungläubigen) nach vorn, in die Zukunft gerichtet, stabilisieren. Dabei werden auf jeder Stufe der Entwicklung neue ethische Entscheidungen notwendig, der Spannungszustand zwischen dem göttlichen Anspruch und dem menschlichen Handelnwollen bzw. Handelnkönnen manifestiert sich je anders.

Der von Ratzinger geforderte „Mut zur Unvollkommenheit“ schriebe fest, was längst noch nicht feststeht bzw. abgeschlossen ist: Das Schicksal der Menschheit (positiv wie negativ) und damit zusammenhängend die Form der gesellschaftlichen Organisation. Die Demokratie gegenwärtiger Prägung ist eine großartige Errungenschaft, aber auch sie wird sich um einer noch besseren Lösung Willen zur Disposition zu stellen haben.

„Alles was besteht, ist Wert, dass es zugrunde geht“ – so zitiert Friedrich Engels (in seiner Schrift „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philo­sophie“) aus Goethes „Faust“ und bezieht sich damit auf die Hegelsche Dialektik, die Kardinal Ratzinger gleich in zweifacher Weise sinnentstellend vereinfacht:

Die bisherige Geschichte wird weder von Links-Hegelianern (Materialisten) noch von Rechts-Hegelianern (Idealisten) ausschließlich als Geschichte der Unfreiheit defi­niert. Das so genannte dialektische Gesetz der Negation der Negation weist auf jeder Stufe der Entwicklung Notwendigkeiten nach. Und auf jeder Stufe finden sich Ele­mente der vorangegangenen Ordnung wieder. Im Begriff der Überwindung kommt dieser Vorgang der Erneuerung und Bewahrung zum Ausdruck.

An anderer Stelle seiner Ausführungen spielt Ratzinger auf Hegels berühmten Satz „Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig“ (aus der Vorrede zu „Grundlinien einer Philosophie des Rechts...“) an. Aber dies bedeutet nicht die „Heiligsprechung alles Bestehenden, die politische Einsegnung des Polizei­staats, der Kabinettsjustiz, der Zensur“ (Friedrich Engels, s.o.), sondern Hegel be­schränkt seinen Begriff von Wirklichkeit auf jene, „die [sich] in ihrer Entfaltung als die Notwendigkeit [erweist]“ (Hegel, Grundlinien, s.o.).

Ratzingers Aufruf zur „Wiederherstellung eines moralischen Grundkonsens in unserer Gesellschaft“ ist denn auch lediglich der intellektuell verbrämte Versuch, alte Herrschaftsstrukturen und –ansprüche in Kirche und Gesellschaft vor dem Verfall zu retten. In Anlehnung an ein Marx-Wort bleibt abschließend festzustellen, dass die hierarchische Kirche aus dem Gestern und die Profitgesellschaft aus dem Heute leben – Theologie und humane Wissenschaften aber das Morgen und Übermorgen zur Sprache bringen müssen.

Foto: (c) br.de

Info: 

Auf welchem Weg befindet sich die Katholische Kirche? Gab es, gibt es Veränderungen, die realistische Hoffnungen auf eine Reformation an Haupt und Gliedern machen? Klaus Philipp Mertens blätterte dazu in seinem persönlichen Archiv und stieß auf einen Beitrag von Joseph Kardinal Ratzinger in der FAZ vom 4. August 1984. Und auf seine eigene Entgegnung vom 31. August 1984 in derselben Zeitung. Seine Quintessenz nach 33 Jahren und trotz Papst Franziskus lautet: Diese Kirche reformiert sich nie. Ehe riskiert sie ihren Untergang.