kpm FeinstaubHat die Autoindustrie den technologischen Anschluss verschlafen?

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die deutsche Automobilindustrie hat den Strukturwandel nicht verschlafen, sie hat ihn nie gewollt und eigentlich will sie ihn nach wie vor nicht.

Das lässt sich belegen:

Denn sie verfügt seit mindestens sechzig Jahren über Detailkenntnisse in den Bereichen Brennstoffzelle und Elektroantrieb. Als der Physiker Eduard Justi sein Modell eines Wasserstoffmotors (exakter ausgedrückt: eine Brennstoffzelle mit Wasserstoff), Mitte der 50er Jahre vorstellte, sicherte sich Daimler-Benz einen Teil der Verfügungsrechte. Allerdings offenbar mit dem Ziel, diese alternative Technik so lange wie möglich in der Schublade zu versenken.

Im Zusammenhang mit dem Reaktorunfall vom 28. März 1979 im Kernkraftwerk „Three Mile Island“ in Harrisburg/USA spitzte sich die Auseinandersetzung um die Kernenergie vor allem in Deutschland zu. Die interessierte Öffentlichkeit diskutierte über Alternativen - sowohl zu allen Formen fossiler Brennstoffe als auch zur Atomenergie. In diesem Kontext erinnerte man sich auch an Eduard Justis Idee; für nicht Wenige war diese technische Errungenschaft sogar eine Neuentdeckung. Das technische Prinzip der Brennstoffzelle ist vergleichsweise einfach: Sie besteht aus zwei Elektroden, der Anode und der Kathode. Diese befinden sich jeweils in von einer Membrane getrennten Kammern. Wasserstoff umspült die Anode und oxidiert. Dabei trennen sich Elektronen und Protonen. Um Spannung und einen Stromfluss zu erzeugen, dürfen nur die Protonen an die Kathode gelangen. Dies ermöglicht eine „Protonenaustauschmembrane“. Die Kathode wird von Sauerstoff umspült. Der verändert sich durch die Aufnahme der Elektronen zu Anionen und reagiert mit den durch die Membrane gewanderten Protonen zu Wasser. Der in der Brennstoffzelle erzeugte Strom treibt schließlich einen Generator an.

Toyota hat längst einen Wasserstoffmotor entwickelt, dessen Volumen dem eines herkömmlichen, mit Benzin oder Diesel betriebenen Vierzylinders entspricht. Sein Wirkungsgrad liegt bei 80 Prozent und mehr und übersteigt damit den energieeffizienten (aber umweltschädigenden) Dieselmotor um das Doppelte.

Die Probleme des Wasserstoffs liegen einerseits im hohen Energieaufwand bei dessen Gewinnung, wobei hier die Solarenergie als Option für die Zukunft erscheint. Zum anderen sind Speicherung und Transport des sich rasch verflüchtigenden Wasserstoffs aufwendig.

Der von Batterien gespeiste Elektromotor scheint gegenüber der Brennstoffzelle deutliche Vorteile zu haben, zumal sich der Motor als solcher seit Jahrzehnten in Lokomotiven und Straßenbahnen bewährt hat. Erheblich komplexer jedoch ist die Entwicklung von Batterien, die einen Bewegungsradius garantieren, welcher den Verbrennungsmotoren entspricht. Hinzu kommt die Aufgabe, ausreichend Strom für das Aufladung der Batterien verfügbar zu machen. Dieser Strom muss erzeugt werden - und nicht in Kohle-, Öl- und Gaskraftwerken. Und schon gar nicht in Atomkraftwerken. Die Brennstoffzelle hingegen ist auf Wasserstoff angewiesen. Der könnte bereits heute zentral in Solar- und Gezeitenkraftwerken gewonnen werden.

Dass der überwiegende Teil der Autoindustrie die Forschung an Brennstoffzelle und Batterien für Elektromotoren vor sich herschiebt, ist eine zwangsläufige Folge der kapitalistischen Produktion und der Marktwirtschaft.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die Zeichen der Zeit auf fossile Brennstoffe, vor allem auf Mineralöl, gestellt. Unermessliche Gelder wurden in dieses Geschäft investiert, Regierungen deswegen gestürzt und Kriege um diesen Rohstoff geführt. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
In den Planzielen der Autokonzerne, die mit der internationalen Mineralölwirtschaft eng verflochten sind, ist der Strukturwandel jedoch längst terminiert. Nämlich für jene Zeit, in der die Ausbeutung der letzten Ölreserven in keinem wirtschaftlichen Verhältnis zum erwartbaren Ertrag mehr steht. Doch man will sich Zeit lassen und die lukrative Kapitalverwertung im Rahmen der erwähnten engen Verflechtung nicht jäh abbrechen. Es war und ist die Absicht von VW, Daimler, BMW und anderen exakt dann mit voll funktionstüchtigen Elektromotoren oder mit Brennstoffzellen aufzuwarten, sobald sich die alte Technologie bis auf den letzten Cent gerechnet hat. Doch hier könnte ein Rechenfehler vorliegen.

Denn jetzt scheitert dieser Jahrhundert-Masterplan möglicherweise an der kapitalistisch-betriebswirtschaftlichen Gier. Statt in umweltverträglichere Antriebe zu investieren (und sei es als Brückenlösung, zum Beispiel in Dieselmotoren mit AdBlue-Technik), wurde ein Bruchteil der Kosten, die bei einem tatsächlichen Systemwechsel anfielen, in ein Täuschungsmanöver gesteckt, nämlich in eine Betrugssoftware.

Aus dieser selbst verursachten Systemkrise gibt es kein Entrinnen, hier helfen keine Lobbyisten, keine Geldspenden an Parteien und keine politischen Freunde. Entweder werden in Millionen Dieselfahrzeugen die Motoren ausgetauscht (und nicht die Software!), oder die deutsche Automobilindustrie wird das Schicksal der schlesischen Weber ereilen, die durch eine neue Technik ihre traditionelle Arbeit verloren hatten.
„Deutschland, wir weben dein Leichentuch, wir weben hinein den dreifachen Fluch“, dichtete 1847 Heinrich Heine über das Ende einer Handwerksepoche. Dafür verfluchten die Weber Gott, der ihre Gebete nicht erhört hatte, den König der Reichen und das Vaterland, in dem lediglich Schmach und Schande gediehen.

Da sich der so genannte Diesel-Gipfel dem Vernehmen nach auf technisch unbefriedigende Software-Updates verständigen wird (weil ein Motoraustausch die Renditen für einige Jahre gegen Null tendieren ließe), können Dobrindt, Müller, Zetsche und Merkel Heines altem Lied neue Verse hinzufügen:
„Den Diesel-Toten keine Träne / wir sichern unsere Domäne / Deutschland, für diesen Jahrhundertbetrug / spenden wir täglich ‘nen Leichenzug.“ Oder so ähnlich.

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Feinstaubbelastung © Handelsblatt