kpm Frankreich.Festnahme des AttentatersParis kommt nicht zur Ruhe - und auch in Deutschland wächst die Furcht vor Attentaten

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - In Paris rast am Morgen des 9. Augusts ein bislang Unbekannter in eine Gruppe Soldaten; mittlerweile konnte er festgenommen werden. Die Behörden gehen von einem Terrorakt aus. Es scheint, als gäbe es längst einen Krieg gegen die demokratischen und zivilisatorischen Errungenschaften Westeuropas.

Wer sind die Attentäter, was verbindet sie und wer beauftragt sie? Für Frankreich lässt sich diese Frage vergleichsweise eindeutig beantworten. Es sind die Enkel jener Algerier, Tunesier und Marokkaner, die vor über 50 Jahren einwanderten, überwiegend die französische Staatsbürgerschaft besitzen und auch die Landessprache einigermaßen beherrschen. Viel mehr als die Bürgerrechte gewährte ihnen die Französische Republik jedoch nicht. Mittlerweile leben drei Generationen in den Banlieues der Großstädte. Regelmäßig setzten die Ausgesonderten Fanale, indem sie Autos anzünden und gewalttätige Krawalle inszenieren. Politische Strategien haben sie nie entwickelt. Denn diese neuen Verdammten der Erde kennen weder Karl Marx, noch Pierre-Joseph Proudhon und auch nicht Lenin. Den Aufruf zur Vereinigung aller Proletarier haben sie nie vernommen. Allenfalls sind ihnen Passagen aus dem Koran bekannt. Auf letzteres setzen nun die Warlords des Islamischen Staats, von denen sie am langen Seil verführt werden. Die Unterwerfung unter die Religion wird sie endgültig sämtlicher Chancen berauben. Aber anscheinend reicht es ihnen bereits, möglichst viele der anderen, der vermeintlich Bessergestellten, ebenfalls in den Tod zu stürzen.

In Deutschland sieht die Situation von ihrem Ursprung her anders aus; sie könnte sich aber in eine ähnliche Richtung entwickeln wie in Frankreich oder in Belgien. Die Attentäter, Einwanderer und Geflüchtete, eint ihre Herkunftsländer, die von einem konservativen bis reaktionären Islam geprägt sind und über keine demokratischen Traditionen verfügen. Die Täter erwiesen sich mehrheitlich als völlig unpolitisch. Falls sie um politisches Asyl nachgesucht haben sollten, könnte dies nur ein vorgeschobener Grund gewesen sein. Denn mutmaßlich suchten sie vorrangig Zuflucht vor den Kriegen in ihren Heimatländern bzw. sahen dort keine wirtschaftlichen Lebensperspektiven mehr. Auch das sind nachvollziehbare Gründe und sie sind nicht ehrabschneidend. Doch dass diese jungen Männer politisch verfolgt wurden, wird man überwiegend ausschließen können.

Das Land, auf welches sie alle Hoffnungen setzten, ist ihnen offensichtlich fremd geblieben. Möglicherweise, weil sie vorher völlig falsche Informationen erhalten hatten (z.B. von Schleppern) und weil sie die Sprache gar nicht oder nicht gut genug gelernt hatten (was in der relativen Kürze der Zeit auch nicht verwundert). Es mangelte ihnen sicherlich sowohl an notwendiger Allgemein- als auch an Fachbildung. Vermutlich blieb ihnen auch das alltägliche Leben der Menschen ein Rätsel. Die Gleichberechtigung von Frauen und Männern einschließlich der Freiheit der sexuellen Orientierung, die völlig andere Bewertung der Familie sowie dem, was die Neuankömmlinge traditionell unter Ehre verstehen, haben sicherlich eine Art Kulturschock ausgelöst. Aber die Eingeborenen und diejenigen, die hier schon lange leben und den üblichen Lebensstil zu ihrem eigenen gemacht haben, verspüren keinen Bedarf, daran etwas zu ändern.

Lediglich rechte Gruppen, die für ihre intellektuellen und ethischen Defizite hinreichend bekannt sind (neben AfD auch NPD, Dritter Weg, Identitäre etc.), propagieren einen Marsch nach Rückwärts, vermeiden aber, einen Zeitpunkt konkret zu benennen, auf den die Uhr der gesellschaftlichen Entwicklung zurückgestellt werden soll.

Die Gewalt, welche die Geflüchteten und Zuwanderer unterschiedslos anwendeten, erwuchs aus ihrem Frust. Das unterscheidet sie vom typischen politischen Attentäter. Letzterer möchte einen Diktator oder den einflussreichen Vertreter eines von ihm als illegitim, inhuman oder verbrecherisch empfundenen Regimes beseitigen. Ich gehe davon aus, dass diese Täter hingegen noch nicht einmal die Namen der tonangebenden Berliner Politiker kannten bzw. kennen, von dem der Kanzlerin möglicherweise einmal abgesehen.

Ich befürchte deswegen, dass die Maßstäbe, nach denen wir seit den 50er Jahren Flüchtlinge beurteilen und ihnen entsprechende Förderungsmaßnahmen zukommen lassen, nicht ausreichen, um diesen Menschen gerecht zu werden. Und dass folglich der größte Teil der Integrationsangebote falsch ist. Ja, ich gehe sogar noch weiter und halte einen Seiteneinstieg in die komplexen Gesellschaften Westeuropas für nahezu ausgeschlossen, falls bestimmte kulturelle Einsichten und berufsfachliche Qualifikationen nicht vorhanden sind. Ein Arzt, ein Ingenieur oder ein qualifizierter Handwerker werden auf überwindbare Hürden stoßen. Mangelhafte Bildungsbereitschaft in Verbindung mit religiös motivierten Distanzierungen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft tragen auf ihre Weise zu diesem Konflikt bei. Die Benachteiligten schließen sich nicht Gewerkschaften und Parteien an, um ihre Interessen zu vertreten. Sie gehen auf die Straße, nicht um zu demonstrieren, sondern um mit Gewalt ihre teils berechtigten Forderungen zu diskreditieren.

Was könnte getan werden? Der deutsche Innenminister favorisiert die Errichtung von Zentren an der nordafrikanischen Mittelmeerküste und setzt parallel auf die Stabilisierung der Flüchtlingslager an der türkischen Ägäis. Dort sollten die Auswanderer quasi gefiltert und möglichst zum Verbleib in ihrer jeweiligen Heimat angehalten werden. Als eine Maßnahme zur Förderung der Infrastrukturen vor Ort geschweige denn zur Sicherung der Zivilgesellschaften in Europa kann man diese Pläne nicht bezeichnen.

Richtig ist hingegen, dass der Schlüssel zur Problemlösung in den Ländern liegt, die von ihren Bewohnern aus den geschilderten Gründen in Massen verlassen werden. Im 18. und 19. Jahrhundert haben die großen Handelsnationen dort Kolonien errichtet, die im 20. Jahrhundert nach Unabhängigkeit verlangten. Mit westlicher Wirtschaftshilfe sollten die Folgen einer jahrzehntelangen Ausbeutung gemildert werden. Das Geld floss jedoch allzu häufig in die falschen Hände; vielfach entpuppten sich die Industrieanlagen als verlängerte Werkbänke multinationaler Konzerne ohne nachhaltige Bedeutung für die einheimische Wirtschaft. Vielleicht könnte man angesichts der Massenflucht aus den Fehlern der Vergangenheit lernen.

Die Staaten der Europäischen Union sollten Szenarien entwickeln mit dem Ziel, Handels- und Bildungsniederlassungen im Nahen Osten und in Afrika zu errichten - also keine Zwischenlager - und diese auch gegebenenfalls militärisch schützen zu lassen - und nicht die längst abgehalfterte Regime und diversen War-Lords in diesen Regionen.

Die wirtschaftlichen Erträge dürften nicht ausschließlich Konzernen zu Gute kommen, sondern auch den dort Beschäftigten. Über ein gerechtes Steuersystem müssten sich die staatlichen Einrichtungen finanzieren können. Die Vorteile lägen auf der Hand: Menschen fänden in ihren Heimatländer Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, sich weiterzubilden, sozial abgesichert zu sein und einen Lebensstandard zu erreichen, der deutlich oberhalb jener Alimentierung läge, die in Europa für die Mehrheit erreichbar wäre. Die Infrastrukturen der Länder könnten auf gesunde Weise wachsen und die EU verschaffte sich sogar Voraussetzungen für einen sozial gerechten Welthandel jenseits des US-amerikanischen und chinesischen Imperialismus.

Das mag utopisch klingen. Doch die gegenwärtigen Maßnahmen laufen allesamt darauf hinaus, den lodernden Weltbrand weiter anzufachen und dabei zu riskieren, dass er früher oder später auch in der EU ausgetragen würde - die derzeitigen Attentate sind nichts anderes als die Vorboten einer noch unheilvolleren Entwicklung.

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Festnahme des Attentäters am Nachmittag des 9. Augusts. © tagesschau.de