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Kategorie: Zeitgeschehen
kpm Frankfurter GerechtigkeitsbrunnenKaum einer will sie wirklich

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Für Angela Merkel ist Gerechtigkeit, wenn man ihre entsprechenden Äußerungen auf den Punkt bringt, die Rechtfertigung der herrschenden Verhältnisse.

Wer etwas leistet, verdient das, was er/sie verdient - einschließlich sämtlicher Privilegien. Die Dummen, die Faulen und die Gescheiterten werden stattdessen auf die Gaben der Barmherzigkeit, einer Sonderzone innerhalb dieser gerechten Gesellschaft, verwiesen. Deren letzte Stationen sind die Suppenküchen und Tafeln, wo sich die Abgehängten an der Mülltonne bedienen dürfen.

Martin Schulz hingegen sieht in der Gerechtigkeit ein Kennzeichen des sozialen Staats. Dieser aber ist nach seiner Meinung noch längst nicht überall verwirklicht.

Der SPD-Vorsitzende und Kanzlerkandidat seiner Partei ist sicherlich dichter dran am Wesen der Gerechtigkeit. Die von ihm angekündigte soziale Gerechtigkeit umfasst neben der Garantie der Bürgerrechte und der Gleichberechtigung der Geschlechter vor allem gleiche Bildungschancen, eine uneingeschränkte medizinische Versorgung, Chancengleichheit im Beruf einschließlich angemessener Bezüge, ein gerechtes Steuersystem, das Anrecht auf eine bezahlbare Wohnung und eine umfassende staatliche Daseinsvorsorge.

Vor vier, fünf Jahrzehnten noch forderte die Sozialdemokratie zudem die Entflechtung der Wirtschaft und gegebenenfalls die Überführung von Monopolbetrieben in Gemeineigentum. Betriebe, die zur Daseinsvorsorge zählten wie der öffentliche Verkehr oder das Post- und Fernmeldewesen, sollten grundsätzlich im Staatsbesitz verbleiben. Die Deregulierungswut, die nach der deutschen Vereinigung einsetzte und unter dem SPD-Kanzler Gerhard Schröder weiter vorangetrieben wurde, setzte diesen traditionellen Anliegen sozialistischer Parteien ein Ende.

Die linke Konkurrenz der SPD, die sich „Die Linke“ nennt und zumindest in Westdeutschland Fleisch vom eigenen Fleische ist (SPD - WASG - Die Linke), möchte diese Elemente der Gerechtigkeit nicht aufgeben. Allerdings stellt sie ihre alternativen Ansätze unter ein geradezu traumatisches Schlagwort, nämlich dem von Hartz IV. Dabei tut sie so, als befände sich der größte Teil der Arbeitnehmer in diesem Stadium der Verelendung. Sicherlich kann das für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden. Aber auch dann wäre diese zumeist unzureichende Alimentierung Bedürftiger lediglich das Symptom einer alle Bereiche umfassenden Ungerechtigkeit, die auf die Entfremdung des Menschen von den Produkten seiner Arbeit zurückgeht. Auch das Schlagwort von der höheren Besteuerung der Einkommensmillionäre greift zu kurz und folglich an den tatsächlichen Problemen vorbei.

Gerechtigkeit in der Wirtschaft wäre bei objektiver Analyse nur dann erreichbar, wenn alle marktbeherrschenden Unternehmen in Gemeineigentum überführt würden. Dem manchmal durchaus gesunden Wettbewerb (auf einem Markt unter Gleichen) schadete das nicht, zumal mittelständische Betriebe davon nicht betroffen wären, die kleinen ohnehin nicht. Aber die Schaltstellen der Ökonomie befinden sich eben bei VW, Daimler, BMW, Siemens, Beyer oder Thyssen-Krupp - um nur einige der infrage kommenden zu nennen. Irgendwie vermisse ich ein Wahlplakat der Linken, auf dem Sarah Wagenknecht vor Deutscher Post AG und Postbank posiert und die „Rettung des verlorenen Volksvermögens - selbstverständlich ohne Entschädigung der Räuber“ verkündet.

Doch auch mit der Rückführung des vorher leichtfertig aufs Spiel gesetzten und zu Dumpingpreisen veräußerten Volksvermögens würde die Gerechtigkeit noch längst nicht am Ziel sein. Um sich eine ungefähre Vorstellung von dem machen zu können, was Gerechtigkeit umfassen müsste, sei auf den griechischen Philosophen Anaximander verwiesen. Er verstand darunter das Ideal des menschlichen Verhaltens gegenüber allem Existierenden. In gewisser Weise griff er damit der Diskussion über eine gerechtere Weltordnung vor, die nur im globalen Zusammenwirken erreichbar sein dürfte.

Ein Beispiel für brutale Ungerechtigkeit wurde im Diesel-Skandal offenbar. Die vom Staat festgesetzten Grenzwerte für Stickoxyde orientieren sich nämlich nicht an Kriterien wie „nichtgesundheitsgefährdend“ und „gesundheitsgefährdend“, sondern an der Anzahl der Opfer, die die Gesellschaft hinzunehmen bereit ist und die in einem ausgewogenen Verhältnis steht zu dem Teil des Bruttosozialprodukts, das von der Autowirtschaft erbracht wird. Der Einzelne, der sich hinsichtlich seiner Konsumwünsche täuschen ließ, zählt nicht. Dessen allmähliche Vergiftung ist lediglich ein Kollateralschaden des Aufschwungs und eine statistische Größe in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung.

In ähnlicher Verkehrung der Tatsachen wird mit der Staatsverschuldung umgegangen. Selbst falls einzelne Projekte, die der Staat finanziert, fragwürdig sein mögen, dient die Mehrheit der Aufwendungen dem Allgemeinwohl. Denn aus ihr speisen sich die Gehälter im Öffentlichen Dienst, ein Teil der Altersrenten, die Kosten für Schulen und Hochschulen, wesentliche Bereich des Gesundheitssystems oder der öffentliche Personennahverkehr. Würde man im Sinn einer kaufmännischen Bilanz den Kosten die geschaffenen Werte gegenüberstellen, ergäbe sich ein völlig anderes Bild als das vom Schuldenstaat.

An den Börsen werden regelmäßig Unternehmen hoch bewertet, die vergleichsweise wenig Erfolg nachweisen können oder deren Aktivitäten mehr als fragwürdig sind (z.B. Bereiche der Share-Economy wie Uber oder Airbnb). Die Nachfrage nach Anteilen solcher Kapitalgesellschaften ist nichts anderes als ein zumindest vorübergehend nicht gedeckter Scheck auf die Zukunft. Und leider erweisen sich solche Spekulationen gehäuft als Flops. Interessanterweise wird dann (wie beim Banken-Crash von 2008) nach dem Staat als dem barmherzigen Retter gerufen. Also nach Gerechtigkeit für jene, die sich bislang darum nicht geschert haben.

Sicherlich ist es wünschenswert, dass die Wohlhabenden und Reichen stärker als bislang zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen. Doch wer die so genannte Staatsverschuldung qua Prinzip abschaffen möchte, sägt an den Fundamenten der Gerechtigkeit. Denn er/sie folgt einer Staatsauffassung, die staatliche Leistung grundsätzlich von einer Gegenleistung abhängig macht. Wem die finanziellen Mittel fehlen, um beispielsweise eine Schulausbildung bezahlen zu können, kann allenfalls noch als entrechteter Sklave seinen Alltag fristen.

Gerechtigkeit ist etwas anderes als Angela Merkel darunter versteht. Und sie übersteigt die Forderungen, die Martin Schulz damit verbindet, bei weitem.

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Der Frankfurter Gerechtigkeitsbrunnen © Medien-Redaktionsgemeinschaft