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Kategorie: Zeitgeschehen
kpm Civil War in BriefmarkenZur Einordnung der Ereignisse von Charlottesville / Virginia

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Margaret Mitchells Schmachtfetzen „Vom Winde verweht“ aus dem Jahr 1936 ist vermutlich das in Deutschland populärste Beispiel einer Verfälschung der US-amerikanischen Historie.

Dieser Familienroman, der thematisch im Sezessionskrieg von 1861-1865 angesiedelt ist, schildert das feudalistische System der Südstaaten samt seiner Sklavenhaltergesellschaft so, wie die Verursacher dieses größten Schlachtfelds auf amerikanischem Boden in die Geschichte eingehen wollten, nämlich als Opfer politischer Ränkespiele der Nordstaaten. Dass die Vereinigten Staaten seit den 1830er Jahren zunehmend wirtschaftlich, sozial und in ihrem Demokratieverständnis gespalten waren und sich diese Trennung zwischen dem Norden und dem Süden vollzog, wird hingegen nicht erzählt. Stattdessen erfährt die Legende von der moralischen Überlegenheit der Südstaaten-Militärs, insbesondere der von General Robert E. Lee, dem Kommandeur der Nord-Virginia-Armee und späteren Oberbefehlshaber, sowie der Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft aller Dienstgrade neue Nahrung.

Vorbild für die Verfälschung dieser und anderer Tatsachen war eine Veröffentlichung von Edward Pollard von 1866 mit dem Titel „The Lost Cause: A New Southern History of the War of the Confederates“. Seither wird mit „The Lost Cause“, der „verlorenen Sache“, das revisionistische Geschichtsverständnis bezeichnet, das sich nach der Niederlage der Südstaaten dort entwickelte und sich bis heute gehalten hat. Äußerlich spiegelt sich dieses vor allem in der Verherrlichung konföderierter Armeeführer wie Robert E. Lee wider, die in Form von unzähligen steinernen oder kupfernen Statuen bis heute der Bevölkerung präsent sind. Auch das Zeigen der Flagge der Konföderation gehört in manchen Regionen zum guten Ton.

Die Verdrängung der Fakten äußert sich jedoch vor allem in der Behauptung, Anlass für den Austritt des Südens aus der Union und damit des Kriegsausbruchs sei nicht die Sklavenfrage gewesen, sondern die Verteidigung der Rechte der Einzelstaaten gegen den Zugriff der von den Nordstaaten dominierten Union. Das trifft nominell zu, aber bei diesen umstrittenen Kompetenzen ging es vorrangig um den Streit um Fortsetzung oder Abschaffung der Sklaverei in Staaten, die der Union neu beitraten und dadurch die mühsam erzielten Kompromisse zwischen diesen Blöcken infrage stellte.

Obwohl die Sklaven faktisch rechtlos waren und folglich auch nicht wählen durften, wurden sie zu drei Fünfteln der Bevölkerungszahl zugerechnet, was die Zusammensetzung der Wahlbezirke und die Anzahl der Abgeordneten, welche die Bundesstaaten in Repräsentantenhaus und Senat entsandten, beeinflusste. Im Süden lebten 5 Millionen Weiße und vier Millionen Sklaven. Letztere vergrößerten mit ihrem rechnerischen Anteil von ca. 2,4 Millionen Menschen die nominelle Gesamtbevölkerung auf 7,4 Millionen. Das stärkte die Position des Südens im Kongress. Zum Vergleich: Im Norden lebten bei Kriegsausbruch ca. 21 Millionen Menschen.

Ein weiterer Streitpunkt war der Umstand, dass der industriell geprägte Norden regelmäßig die Einführung von Schutzzöllen auf Industrieprodukte aus Europa forderte. Das hätte zu entsprechenden Gegenmaßnahmen der großen europäischen Staaten, vor allem Großbritanniens und Frankreichs, geführt und den Export der landwirtschaftlichen Produkte des Südens auf diesen Märkten erheblich verteuert.

Letztlich ging es um das demokratische Selbstverständnis der Union. Die Nordstaaten bestanden auf dem Charakter einer Union, die mehr sein müsse als ein Staatenbund. Und sie bestand auf der Einhaltung der Verfassungsartikel. Einzelstaaten dürften nicht das Recht haben, Mehrheitsentscheidungen des Kongresses in Washington wieder aufzuheben.

Allerdings schützte diese Verfassung bis zum Ende des Bürgerkriegs die Sklaverei dort, wo sie bereits bei der Gründung der USA bestanden hatte. Für Staaten, die der Union neu beitraten, galt das nicht; sie konnten sich entscheiden. Es gab im Norden selbst während der Dauer des Sezessionskriegs keine Mehrheit für die Abschaffung der Sklaverei. Selbst Präsident Abraham Lincoln trat bei seiner Kandidatur 1860 nicht für die sofortige Abschaffung ein, sondern wollte sie zunächst beschränken auf die Staaten, in denen sie bereits existierte; auch er selbst besaß einige Sklaven, die auf seinem Landbesitz arbeiteten.

Der missglückte Aufstand der so genannten Abolitionisten unter James Brown im Jahr 1859 in Kansas blieb eine Ausnahme. An diesen Rebellen, der zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, erinnert das Lied „John Brown’s body lies amouldering in the grave but his soul goes marching on”.

Bei Ausbruch des Sezessionskriegs 1861 verblieben sogar vier Sklavenhalterstaaten in der Union: Missouri, Kentucky, Maryland und Delaware. Virginia, das den Konföderierten beigetreten war und dessen Hauptstadt Richmond zur Kapitale der Konföderation wurde, spaltete sich allerdings auf; die nordwestlichen Countys schlossen sich zum Staat West Virginia zusammen, welcher noch während des Kriegs der Union beitrat.

Der Norden war dem Süden sowohl hinsichtlich der Bevölkerungszahl als auch nach wirtschaftlicher Leistungskraft überlegen. Allein die Industrieproduktion des Staats New York war um das Vierfache größer als die aller Südstaaten zusammen. Die Bevölkerung des Nordens setze sich im östlichen Teil mehrheitlich aus Lohnarbeitern und im westlichen Teil überwiegend aus Kleinbauern (Farmern) zusammen. Mittelschicht und Oberschicht waren vergleichsweise klein und hatten sich seit der britischen Kolonialzeit kaum verändert. Da die Industrie auf qualifizierte Mitarbeiter angewiesen war, war das öffentliche Bildungssystem für die damalige Zeit gut ausgebaut; allerdings war der Zugang zu den Universitäten nur den wirtschaftlich Privilegierten möglich, weil sie über das dafür notwendige Geld verfügten.

Der Süden wurde dominiert von einer Oberschicht aus Plantagenbesitzern (Anbau von Erdnüssen, Zuckerrohr, Baumwolle, Tabak), die kleine Mittelschicht bestand überwiegend aus Handwerkern und Eigentümern kleinerer Plantagen. Verarmte Tagelöhner und Kleinbauern, die von der Hand in den Mund lebten, bildeten die untere Schicht der weißen Gesellschaft. Obwohl die Vermögensunterschiede zwischen den einzelnen Schichten zum Teil beträchtlich waren, traten kaum soziale Spannungen auf. Denn faktisch wurde die Gesellschaft zusammengehalten durch die Sklaven, die noch weit unterhalb des ärmsten Weißen rangierten und auf die jeder herabsehen konnte.

Da der Süden kaum Industriegüter herstellte, mussten diese aus dem Ausland oder aus dem Norden importiert werden. Umgekehrt exportierte der Süden wesentliche Teile seiner Produktion ins Ausland. Er wäre deswegen von den Schutzzöllen, welche die Republikanische Partei zur Stabilisierung der heimischen Industrieprodukte erwogen hatte, besonders betroffen gewesen. Das Festhalten des Südens an der Sklaverei war nicht zuletzt begründet im wirtschaftlichen Vorteil der Sklavenhaltung gegenüber der Lohnarbeit.

Der Sezessions- oder Bürgerkrieg („Civil War“) war die verlustreichste Auseinandersetzung, die je auf dem Boden der USA ausgefochten wurde. Etwa 620.000 Menschen kamen ums Leben. Damit hatte dieser Krieg mehr Todesopfer gefordert als jeder andere, an dem das Land im Laufe seiner bisherigen Geschichte beteiligt war. Als er endete, war der Süden über weite Strecken ein verwüstetes, wirtschaftlich ruiniertes Land. Das war auch der militärischen Strategie der verbrannten Erde auf dem Marsch nach Westen geschuldet, die der Nordstaatengeneral William Tecumseh Sherman (den der Norden durch viele Statuen ehrt) initiiert hatte und mit welcher der totale Krieg Einzug in die Militärgeschichte hielt.

Eine umfassende Aufarbeitung dieser Katastrophe im Sinn einer wirklichen Ursachenforschung fand nicht statt. Das zeigt sich u.a. auch an der nach wie vor bestehenden Diskriminierung Schwarzer, die trotz der zusätzlichen Verfassungsartikel (13, 14 und 15), die ihnen Freiheit, Bürger- und Wahlrecht bescherten, vor allem in den Südstaaten immer noch als Bürger zweiter Klasse behandelt werden. Dieses Versäumnis ist der Nährboden für Rechtsextremisten, US-Nazis und den Ku-Klux-Klan. Dem vermeintlichen Rebellen-Ethos der Konföderation hängen in nennenswerter Anzahl die sozial Abgehängten an. In devoter Ehrerbietung huldigen sie jenen, die einen Sozialstaat USA seit Jahr und Tag verhindern. In der Person von Donald Trump haben sie ihren neuen Helden gefunden.

Mir erscheint es allerdings zweifelhaft, ob durch die Demontage der Denkmäler von Bürgerkriegsgenerälen wie in Charlottesville das Problembewusstsein gefördert wird. Es könnte nützlicher sein, die Anzahl der Toten in die Statuen einzumeißeln, die auf das Konto dieser Führer gehen.


Foto:

Der CIVIL WAR in Briefmarken © US Postal Service