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Kategorie: Zeitgeschehen
tach sicherhietFreiheit vs. Sicherheit

Yves Kugelmann

Zürich (Weltexpresso) - Die jüdische Mythologie ist eine Befreiungslehre; aus der Versklavung in Ägypten immer auch im offenen Umgang mit dem Fremden oder dem Anderen im Vertrauen auf jene Instanz, die gemäss den Schriften die erst dadurch formulierten Juden in die Freiheit geführt hat.

Eine Freiheit, die vor dem rabbinischen Judentum durchaus auch eine gesellschaftliche, eine grenzenlose war bis hin zur Definition, wer jüdisch sei. Vor den Zeiten Esras und Nechemias war Vermischung nicht Assimilation, sondern Alltag. Das jüdische Konzept war ursprünglich ein anderes als das heute beziehungsweise seit der neuen Definition postulierte. Judentum war eine im Orient gewachsene Stammeskultur mit progressivem Einschlag beginnend bei der Festlegung auf den Monotheismus. Die Haggada von Pessach ist die Dialektik der Freiheit in jeder Hinsicht: des Individuums und des Kollektivs im Narrativ einer erwachenden emanzipatorischen Gelehrtenschrift allerdings, die sich nie entfernt von jener Instanz, die letztlich das Goldene Kalb mitbegründet hat - in einer Dialektik, die auch den Glauben umfasst. Das Traktat war dann doch nicht Diktat. Dogmatik, also der postulierte Entzug des freien Denkens, sollte nicht Teil der jüdischen Tradition werden, sondern sich ihr entgegenstellen und eine Explosion der Lehre begründen, die durchdrungen von Freiheit gerade auch dann war, wenn Verfolgung, Gefangenschaft und Bedrohung diese äussere Realität darstellten. Doch die Widerrede sollte von Abraham, Josef und Moses den Weg ebnen zu jener von Heinrich Heine bis Hannah Arendt, Albert Einstein oder anderen Zeitgenossinnen.

Wer auf das Judentum von heute blickt, findet vieles davon nicht mehr, was einst diese Kultur ausmachte. Die Widerrede ist marginalisiert, der jüdische Föderalismus ohne zentralistische Grösse weitgehend durch eine Dominanz Israels über den Gedanken der Nation hinaus offensichtlich.

Potenzielle Gefahren geisseln die jüdischen Gemeinschaften in den letzten Monaten und Jahren weltweit so sehr, dass zunehmende Abschottung, Eingrenzung und Isolierung eine Selbstunterwerfung und -ausgrenzung an ein Sicherheitsprimat darstellt, das das jüdische Leben nicht nur marginal verändert. Dabei müssen zynische Wahrscheinlichkeiten eintretender Bedrohungen nicht aufgebauscht werden, sondern es gilt zu berechnen, in welcher Relation die jüdische Gemeinschaft Freiheit gegen Sicherheit einzutauschen bereit ist. Gerade auch dort, wo Spielräume gegeben sind im Alltag, in der inneren Dynamik einer derart heterogenen Gemeinschaft, die nicht nur die Fragmentierung zelebriert, sondern dadurch auch einen Freiheitsbegriff prägt und lebt, der sie ausmacht. Wäre diese Tradition nicht über Jahrhunderte gelebt worden, wäre sie hier idealisiert.

Doch eben gerade die Verkennung, vielleicht auch das Unwissen darüber, woher kommt, was da und nachlesbar eingeschrieben ist, in eine Schriftkultur, kontrastieren das Ist und das Jetzt einer geradezu durch die Gefahr des Möglichen paralysierten Gemeinschaft natürlich mit dem Trauma des grössten Zivilisationsbruchs. Der Sicherheitsdiskurs überlagert in diesen Tagen und Monaten jedes Gemeindebudget, jede politische, jede Debatte über die Zukunft. Israels Primat der Sicherheit hat sich auf die jüdische Gemeinschaft weltweit übertragen, weit über die wichtige, nötige, gesunde Auseinandersetzung über dieses notwendigen Übel hinaus. Sicherheit ist geradezu zur Ideologie einer Gemeinschaft geworden, die doch keine kannte und derart antidogmatisch war, dass selbst eine göttliche Instanz ihrer nie habhaft werden konnten.

Es gibt keine äussere Sicherheit auf lange Zeit ohne die innere Klarheit für eine Art der Stärke, die nicht abhängig ist von Abschreckung, Kameras, Überwachung und einer ganzen Armee von Sicherheitsleuten, «schomrim». Dies kann nicht die jüdische Zukunft, sondern allenfalls ein notwendiges Übel sein, das allerdings nicht expandiert, sondern reduziert werden muss und nicht zum neuen Selbstverständnis einer Gemeinschaft werden kann, die auf Sicherheit angewiesen ist, sie aber nicht zur Raison d'Être jedes Denkens und Handelns machen kann. Zumal jeder Extremismus den längeren Atem haben wird als jede Sicherheitsmassnahme.

Die Reduktion der jüdischen Gemeinschaft auf durchaus berechtigte Sicherheitsaspekte ist falsch und ist noch falscher geworden, wenn sie nunmehr seit Jahren von Funktionären verkündet wird. Die jüdische Gemeinschaft kann und will letztlich auch nicht unbezahlbare Sicherheit zum Allerheilmittel emporstilisieren und sich davon dominieren, vielleicht sogar ganz aushöhlen lassen. Immer schon haben Funktionäre und sogenannte Leader mit der Verkündung erhöhter oder Sicherheit generell, populär und noch öfter populstische Gedanken verbreitet. Wer kennt nicht die Angeberei und schlicht die Verhinderung von Diskussion mit dem Sicherheitsargument. Diese verhinderte Entwicklung entfremdet eine Gemeinschaft, gängelt sie, während nun die Sicherheitskosten alle andere Fragen überlagern, die Themen der Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft im Kontext Moderne ausbremsen. Dies führt zu einem Rückschritt, der nicht vollzogen werden muss, wenn sich die jüdische Gemeinschaft wieder auf andere Qualitäten zurückzieht. Zum Jahresbeginn gilt es also Weichen in eine neue Richtung zu stellen.

Zum Autor
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Foto: © rf-security.de

Info: Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 20. September 2017