kpm neuZerbrochenes Gewehr.Symbol der WRI66, 67, 68 - Die Anfangsjahre der „großen Verweigerung“, Teil 1

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - „Waren Sie auch ein 68er?“ wurde und werde ich häufig gefragt.

„Eigentlich nicht“, antworte ich dann. „Denn ich beteiligte mich bereits ab dem Frühjahr 1966 an den politischen Protesten von Schülern, Studenten und Lehrlingen sowie an Demonstrationen in der Kulturszene.“ Begonnen hatte alles mit meinem Entschluss, den Kriegsdienst zu verweigern, nachdem ich vorher mit einer Karriere bei der Bundeswehr geliebäugelt hatte.

Im Januar 1966 hatte ich meinen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer eingereicht. Im April wurde ich Mitglied des „Verbands der Kriegsdienstverweigerer (VK)“ in meiner Heimatstadt Dortmund. Der Verein wurde für mich so etwas wie das Eintrittstor in die Welt der politischen Auseinandersetzung, zu der ich bislang keinen Zugang hatte, ja, von deren tatsächlichen Dimensionen ich nichts wusste, noch nicht einmal etwas geahnt hatte.

In Jugendhäusern, Kirchengemeinden oder öffentlichen Bibliotheken nahm ich an Diskussionen über die Bundeswehr, die NATO, den Warschauer Pakt sowie über die ethischen und politischen Aspekte militärischer Gewalt teil. Anfangs als Zuhörer, später saß ich mit auf den Podien. Und immer häufiger mischte ich mich ein in die Kontroversen über die gesellschaftliche Situation der Bundesrepublik.

Wissbegierig wie nie zuvor stürzte ich mich zunächst in die Lektüre der Romane Heinrich Bölls, die den Zweiten Weltkrieg entlarvten als Komplott von Chauvinisten, Rassisten und Großindustrie, zu dem die christlichen Kirchen noch ihren Segen gaben. Dann versuchte ich zu recherchieren, wie sich der Faschismus im Ruhrgebiet, einer traditionellen Arbeiterregion, durchsetzen konnte. Dabei lernte ich Schriftsteller wie Max von der Grün, Bruno Gluchowski, Josef Reding und Wolfgang Körner kennen, die in der linken „Dortmunder Gruppe 61“ organisiert waren.

Sie war fünf Jahre zuvor vom damaligen Leiter der Dortmunder Stadtbücherei, Fritz Hüser (1908 - 1979), gegründet worden und sie hat für mindestens ein Jahrzehnt die politische Kultur im Ruhrgebiet maßgeblich mit beeinflusst. Die Autoren der „Gruppe 61“ beließen es nicht bei Rückblenden in die Vergangenheit und bei Erklärungsversuchen. Sie blickten auch nach vorn, entwarfen Perspektiven für eine gerechte und soziale Gesellschaft, in welcher die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen keinen Platz mehr hätte und die folglich auch den Krieg als Mittel der Politik verwerfen würde.

In einem von linken Gewerkschaftern initiierten Arbeiterbildungsverein, dessen Domizil ein ausgebauter Keller nördlich des Dortmunder Hauptbahnhofs war (also in einem anrüchigen Viertel, dem Steinplatz, lag, unweit von Bordell, Striplokalen und Bars), stieß ich auf die Schriften von Karl Marx, Friedrich Engels und Lenin. Während mir das Gymnasium nie verheißungsvolle Zugänge zur deutschen Philosophie im 19. Jahrhundert verschaffen konnte und das mutmaßlich auch nicht wollte, sog ich die neu kennengelernten Ideen der frühen Sozialisten geradezu auf - wie einer, der 40 Tage in der Wüste dem Verdursten ausgeliefert war. In Lenins Schrift „Drei Quellen, drei Bestandteile“ fand ich die Rechtfertigung für meine neuen Überzeugungen:

„Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist. Sie ist in sich geschlossen und harmonisch, sie gibt den Menschen eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion, keinerlei Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren lässt. Sie ist die rechtmäßige Erbin des Besten, was die Menschheit im 19. Jahrhundert in Gestalt der deutschen Philosophie, der englischen Ökonomie und des französischen Sozialismus hervorgebracht hat.“

Die neuen Erkenntnisse hinderten mich jedoch nicht daran, meine persönliche Exegese der Bibel fortzusetzen. Da ich die alten Sprachen zumindest oberflächlich gelernt hatte, erschlossen sich mir allmählich die gesellschafts- und religionskritischen Schriften des Alten und Neuen Testaments - die orthodoxen religiösen Vorschriften hingegen ließ ich rechts liegen. Die Hoffnung der Juden auf einen geistlichen und weltlichen Befreier, den Messias, und den alle Dinge in Frage stellenden Jesus, der ein Feuer anzünden wollte auf Erden und Zwietracht säen wollte zwischen den Garanten der alten Ordnung, erschienen mir als ein Teil jenes Erbes, von dem Lenin sprach, quasi als revolutionäre Perspektiven des Altertums.

Durch Zufall oder Notwendigkeit traf ich in der Kriegsdienstverweigerer-Organisation meinen Latein- und Religionslehrer aus der Unter- und Mittelstufe wieder. Der machte mich bekannt mit Heinz Kloppenburg (1903 - 1986), Oberkirchenrat und Pfarrer an der Dortmunder Marienkirche, der über enge Kontakte zum „Internationalen Versöhnungsbund“, zur „Aktion Sühnezeichen“ und zur „Christlichen Friedenskonferenz“ verfügte. Letztere galt als kommunistisch unterwandert, war aber bis zum Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei am 21. August 1968 eine der wenigen Möglichkeiten, mit Christen aus den sozialistischen Staaten in Verbindung treten zu können. In diesem Jahr 1966 bewegte ich mich ideologisch zwischen Bibel und Marx/Engels.

Doch es deutete sich allmählich eine inhaltliche Wende an. Zu meinem 19. Geburtstag im Juli 1966 schenkte ich mir selbst Herbert Marcuses Schrift „Der eindimensionale Mensch“, die kurz zuvor in deutscher Übersetzung erschienen war. Marcuse thematisierte darin die Manipulation des Menschen in der Konsumgesellschaft und rief zur „Großen Verweigerung“ auf. Dies war ein Signal, das von der protestierenden jungen Generation gehört und angenommen wurde - und dazu gehörte ich. Ende November 1966 sprach Rudi Dutschke in der Berliner „Hasenheide“ vor einigen Tausend Menschen. Er wendete sich in seiner Rede gegen den US-Krieg in Vietnam und gegen die verkrusteten gesellschaftlichen Strukturen in der Bundesrepublik. Die Berichterstattung darüber in der Ruhrgebiets-Presse war eher dürftig. Lediglich „Die Welt“, „BILD“ und andere Zeitungen des Axel Springer Verlags wurden ausführlicher; es schien so, als hätten die Zentralorgane des Kapitalismus ihre ernst zu nehmenden Gegner und Überwinder ausgemacht und schossen sich bereits auf diese ein.

Am 23. November 1966 fand die Verhandlung zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer vor dem Prüfungsausschuss in Dortmund statt. In meiner bereits mit dem Antrag eingereichten schriftlichen Begründung hatte ich mich u.a. bezogen auf ein schmales Buch, das der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Ulrich de Maizière (Vater des späteren Kanzleramts-, Verteidigungs- und Innenministers Thomas de Maizière), zwei Jahre zuvor (als Inspekteur des Heeres) verfasst hatte: „Die Landesverteidigung im Rahmen der Gesamtverteidigung“ (Verlag R. von Decker, Hamburg). Daraus hatte ich diesen Abschnitt zitiert: „Das Territorium der Bundesrepublik ist lang und schmal; ihm fehlt die für die Durchführung von Verteidigungsmaßnahmen notwendige Tiefe.“ Maizière begründete damit die Notwendigkeit der atomaren Abschreckung. Ich stritt mich 40 Minuten lang mit dem Ausschussvorsitzenden, einem Regierungsrat des Kreiswehrersatzamtes, über die ethischen und politischen Konsequenzen aus dieser „Alternative“ zwischen Tod und Tod. Zur Sprache kam auch mein Leserbrief zum Umgang mit Kriegsdienstverweigerern, den die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ am 14.09.1966 veröffentlicht hatte. Es war der erste Leserbrief, der von mir abgedruckt worden war. Nach diesem Verhör berieten sich die Ausschussmitglieder knappe zehn Minuten. Dann wurde ich wieder hereingebeten, um mir die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer mündlich auszusprechen; die schriftliche Bestätigung erreichte mich etwa zwei Wochen später.

Foto:
Zerbrochenes Gewehr, Symbol der War Resisters International, London ©

Info:
Im zweiten Teil seines politisch-biografischen Essays beschäftigt sich Klaus Philipp Mertens mit der Ostermarschbewegung und den kontroversen Diskussionen innerhalb der neuen undogmatischen Linken.