kpm Rotes DeutschlandWann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht hier? Wer, wenn nicht wir?

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – „Wann, wenn nicht jetzt?“ fragt Antje Vollmer am 21. Oktober in der „Frankfurter Rundschau“.

Von einem alten jüdischen Sprichwort inspiriert, das Rio Reiser vor Jahren zu einem politischen Lied herausforderte, plädiert sie dafür, dass die politische Linke ihre historische Spaltung überwindet und andere Zukunftsperspektiven als konservative und neoliberale Regierungen á la Jamaika aufzuzeigen hätte. Damit stellt sich jedoch unabweisbar die Frage, ob sich der Kapitalismus zügeln lässt, ja, ob er im Sinn humanistischer Ideale reformierbar sein könnte.

Doch gehören nicht das Verschaffen von Vorteilen gegenüber anderen, wirtschaftliche Vorherrschaft (bei Produkten und Märkten) und schlussendlich die Erlangung politischer Macht (letztere zur Absicherung des vorher Genannten) zu seinem Wesen? Müsste er, der Kapitalismus, nicht, wenn er der gesamten Menschheit dienen wollte, auf allen Ebenen durch ein System demokratischer Entscheidungsprozesse ersetzt, statt von vergleichsweise wenigen beherrscht zu werden? Und welche Kriterien wären dann als Leitlinien zu definieren, um sowohl das Ziel als auch die Wege dorthin menschenfreundlich und menschenwürdig zu gestalten? Bedarf es möglicherweise eines neuen Dekalogs, der ausschließlich das Diesseits im Blick hat, aber sich wie sein biblisches Vorbild aus der weisheitlichen Erfahrung der Menschheit speist?

Exakt über solche Frage streiten sich Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten seit Jahrzehnten. Mal sehr seriös und ernsthaft und um der Sache willen, mal oberflächlich und im Interesse ihrer persönlichen (Karriere-) Interessen. Dieser vielgestaltige Streit verdeutlicht auch, dass Idealisten ihre Ideale verlieren können und sehr viele von ihnen sie tatsächlich verloren haben. Vielleicht deswegen, weil der Kampf um die bessere Welt sich der Kampftechniken jener Gesellschaft bedient, die eigentlich überwunden werden soll.

Der Sozialdemokratie sagt man nach, dass sie sich lediglich als Reparaturbetrieb des Kapitalismus verstehe, dass sie dessen übelste Begleiterscheinungen zwar abmildern oder vollständig beseitigen will, ohne jedoch die Systemfrage zu stellen. Dass sie auf Beschwichtigung und Interessenausgleich setzt.

Sozialisten und Kommunisten stellen das kapitalistische System grundsätzlich und zumeist in radikaler Weise infrage. Aber ihnen fehlen in der modernen Industriegesellschaft ausreichend Anhänger mit ähnlichem Problembewusstsein. Denn die Lohnabhängigen akzeptieren mehrheitlich die goldenen Fesseln, zumindest solange, wie das Joch vergleichsweise leicht zu tragen ist und dank vielfältiger Manipulation die Hoffnung auf Besserung gerade bei jenen nicht erlischt, welche die schwersten Lasten tragen. Die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft sind vor allem denen nicht bewusst oder werden von ihnen verdrängt, die tagtäglich in den Produktions-, Verwaltungs- und Vermarktungsbetrieben ihren Berufen nachgehen und welche die ständig steigende Produktivität häufig mit Schäden an ihrer Gesundheit bezahlen müssen. Und die aktiv am Untergang einer bewohnbaren und lebenswerten Welt mitarbeiten, manchmal gegen das eigene bessere Wissen.

In vielen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, wo die Kulis der westlichen Industriegesellschaft schuften und wo sich niemals ein Silberstreif am Horizont zeigt, degeneriert ein Teil der Menschheit zu Raubtieren. Wird dieses explosive Gemisch noch durch autoritäre Religionen mit Jenseits-Verheißungen verdichtet, entsteht ein Terrorismus, welcher letztlich der Stabilisierung der kapitalistischen Verhältnisse garantiert. Ein Beitrag zur Befreiung ist aus diesem Teil der Welt, der derzeit Heimat der Ärmsten der Armen ist, ist nicht zu erwarten.

Was bleibt zu tun, um nicht weiterhin ungebremst in die totale (weil soziale, ökologische und politische) Katastrophe zu rasen?

Der Kapitalismus setzt auf formale Bildung auf allen Qualifikationsebenen. Aber er verhindert durch Einflussnahme in die staatliche Bildungspolitik sowie durch permanente Propagandakampagnen das Entstehen eines kritischen Bewusstseins. Zudem setzt er aus systemimmanenten Gründen (weil sich Kapitaleinsatz wirtschaftlich rentieren muss) vor allem auf quantitatives Wachstum, auf die kostengünstige Massenproduktion von Gütern, die vielfach volkswirtschaftlich sinnlos sind, weil sie mit Ressourcenverschwendung und Umweltzerstörung einhergehen. Massenproduktion wiederum ist auf Massenkonsum angewiesen, der nicht aus sich selbst heraus entsteht, sondern nur mit Hilfe manipulierender Bedarfsweckung erreichbar ist.

Die moderne kapitalistische Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Anpassung und der Angepassten. Das ist ihren Verfechtern bekannt und folglich sehen sie darin die größte Schwachstelle des Systems, die viel gravierender ist als beispielweise ungleiche Gehaltsstrukturen in den Industrieländern. Darum sollen durch wirksame Öffentlichkeitsarbeit die Interessen der Wirtschaft auf den Feldern Arbeitsmarktpolitik, Wirtschaftspolitik, Umwelt- und Energiepolitik, Sozialpolitik und Bildungspolitik im Sinn von Deutungshoheit in der Bevölkerung verankert werden. Ein typisches Beispiel dafür ist die „Initiative Neue soziale Marktwirtschaft“ der Arbeitgeberverbände. Zusammen mit dem ebenfalls zum Arbeitgeberverband zählenden „Institut der deutschen Wirtschaft“, dem „Institut für Demoskopie Allensbach“ und dem „Stockholm Network“ wird erfolgreich versucht, die ureigensten Interessen der Bevölkerungsmehrheit in ihr Gegenteil zu verkehren.

Parteien wie Die Linke hingegen begründen ihre Forderungen nach einer gerechten und solidarischen Gesellschaft mit Argumenten, die selbst vielen Armen als Rückfall in jenen offenen Klassenkampf mit starren Fronten erscheint, der das 19. Jahrhundert bestimmte. Statt den angeblichen Interessenausgleich zwischen denen, die über Eigentum an Produktionsmitteln und Finanzkapital verfügen und den Besitzlosen zu demaskieren, wird so getan, als ob der Hälfte der Bevölkerung Hartz IV drohe. Letzteres wird allein wegen der notwendigen Stabilisierung der Massenkaufkraft nicht eintreten. Vielmehr werden die sozialen Antagonismen immer komplexer und dadurch undurchschaubarer. Diese zu entlarven, würde bereits den wesentlichen Teil eines linken Parteiprogramms darstellen. Intellektuelle Anleihen bei den sozialistischen Theoretikern des 19. Jahrhunderts werden sich dabei zwar als nützlich erweisen, dürften aber nicht ausreichen.

Ich sehe nur einen Ausweg: Dieser kann nur in den Köpfen der Menschen beginnen. Sie werden wieder in der Lage sein müssen, über den Tellerrand des allzu Selbstverständlichen hinauszublicken. Deswegen darf die schulische Bildung nicht länger eine formale, auf die Bedürfnisse der Wirtschaft zugeschnittene, sein. Das logische Denken, das verstehende Lesen, das ausdrucksfähige Sprechen und Schreiben werden Einstiegsqualifikationen für alle Berufe sein müssen.
Daneben bedarf es einer ethischen Grundübereinstimmung, aus der persönliche Aufrichtigkeit, Mut zur eigenen Meinung und zum Widerspruch hervorgehen. Eine wichtige Aufgabe bei der Humanisierung der Gesellschaft wird den Qualitätsmedien, also der unabhängigen Presse und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, zukommen. Und Kommunikation wird mehr sein müssen als das Zusammentreffen von Millionen unbedarfter bis gemeingefährlicher Charaktere im Internet.

Links muss künftig dort sein, wo Ethos und Verstand ihren Sitz haben. Alles andere ergibt sich daraus mit zwangsläufiger Notwendigkeit.

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Deutschlandkarte rot. © Medien-Redaktionsgemeinschaft