kpm Gorki und Cechov 1900Maxim Gorki und die russische Oktober-Revolution von 1917, Teil 1/3

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Er zählt zu den intellektuellen Wegbereitern der russischen Oktoberrevolution von 1917: Alexei Maximowitsch Peschkow, der sich Maxim Gorki nannte und am 16. März 1868 in Nischni Nowgorod geboren wurde.

Seine Erzählungen und Theaterstücke sind nach einer Rezeptur angefertigt, deren Bestandteile soziales Elend, verantwortungsloses Wegschauen vor gesellschaftlichen Katastrophen, politischer Ungehorsam und Aufruhr, Hoffnung auf bessere Verhältnisse, schließlich Revolution und nicht zuletzt politische Agitation heißen. Allesamt also typische Merkmale des spätzaristischen Russlands. Gorkis Leben war selbst ein Spiegelbild jener Umbrüche, die sich in Russland im letzten Drittel des 19. und im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts vollzogen. Umbrüche, die sowohl ein riesiges Land für acht Jahrzehnte als auch die ganze Welt veränderten, gar erschütterten und mutmaßlich noch Auswirkungen auf die nächste Zukunft der Menschheit haben werden.


Der Weg zum revolutionären Schriftsteller

Gorki - das bedeutet im Russischen "bitter", auch "der Bittere". Durch dieses Pseudonym hat Alexei Maximowitsch Peschkow bereits die Gestalten kategorisiert, die er in die russische Literatur einführte - einschließlich seiner eigenen Person. Und er folgt damit einer sprachlichen Tradition, da die Eigenschaft "bitter" im Russischen häufig als Ergänzung des Wortes "Schicksal" auftaucht. Ein "bitteres Schicksal" erlitten vor allem die Menschen, die seit Jahrhunderten um ihre Rechte gebracht wurden - allen voran die armen Bauern, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sogar Leibeigene der Grundbesitzer waren.

Gorki betritt in einem zeitlichen Abschnitt die Bühne der Literatur und des Theaters als die russische Literatur festgefahren scheint. Zwar haben die großen Erzähler Tolstoi, Dostojewski, Turgenjew und Gontscharow den Realismus in ihren Werken zur höchsten Vollendung gebracht. Doch obwohl diese dem Zeitgeschehen so nahe sind oder es zu sein scheinen, befriedigen sie den aufgeklärten Leser nicht mehr. Denn die Welt dieser großen Erzähler ist die Welt des versinkenden Adels, also jener Kaste, die sich überlebt hat. Deren Probleme bewegen niemanden mehr wirklich. Das Publikum spürt, dass sich soziale und politische Veränderungen anbahnen und ist mehrheitlich ganz auf diese Zukunft ausgerichtet. Und diese Erwartungen schließen eine Revolution, also den totalen Bruch mit allen oder fast allen Traditionen nicht aus.

Gorki tritt im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts auf den Plan, also in einer Epoche, in der die sozialen und die literarischen Normen gleichzeitig zu zerbrechen beginnen. Haben die neuen bürgerlichen Milieus, die aus Industrie und Handel her­vorgegangen sind, die feudalen Strukturen des Adels auch erkennbar aufgeweicht, so dominieren in der Kunst nach wie vor Überdruss und Langeweile. Eine Demokratie ist nicht in Sicht und folglich spiegelt sie sich auch nicht im kulturellen Überbau.

Folglich wirken die ersten Erzählungen Gorkis wie kleine Explosionen. Ihre Sprache ist zwar einfach, aber überaus lebendig und sehr ausdrucksvoll, sie arbeitet mit kräftigen Farben, vermeidet bewusst Zwischentöne und ihre Helden sind in vielfacher Hinsicht außergewöhnlich.

Streng genommen sind das erst oberflächliche Neuerungen. Doch die Sucht nach Neuem ist damals so groß, dass es Gorki binnen Kurzem gelingt, die Aufmerk­samkeit der russischen und bald auch der internationalen Öffentlichkeit auf sich zu lenken.

Denn dieser Schriftsteller sieht die Welt mit neuen, unverstellten Augen an, wie es eigentlich nur jemand gelingt, der nicht den intellektuellen Kreisen einer Oberschicht und auch nicht dem mehr oder weniger wohlhabenden Bürgertum entstammt, sondern der "den Hinterhöfen des Lebens" entronnen ist, so wie mancher seiner Helden. Und obwohl er einer ungehobelten, vielfach brutalen und mehrheitlich analphabetischen Umgebung entstammt, trägt er einen Wissensdurst, geradezu eine Verehrung der Kultur in sich, die all denen, die mit Wissen und Kultur von Kindheit an vertraut sind, rätselhaft bleibt. Für diesen Jungen, den Enkel eines Wolgaschleppers, der sich mit der Kraft seiner Fäuste zum geistigen Leben empor kämpft, haben Worte wie Schönheit, Ideale, Freude oder Licht einen vitalen Schwung. Kämpfend, nämlich täglich um seine Existenz kämpfend, kommt er zum Schreiben, ist beseelt von einem Sehnen nach Zukunft, das den Schriftstellern seiner Zeit fremd bleibt.

Die Universitätsstadt Kasan an der Wolga ist am Ende des 19. Jahrhunderts eine der größeren Städte, in denen es politisch gärt. Und hier, während er abwechselnd als Verladearbeiter, Gärtner, Statist und vor allem als Bäcker unter allerschwierigsten Bedingungen arbeitet, erhält er in studentischen und marxistischen Geheimzirkeln seine politische Bildung. Der Bäckergeselle und Autodidakt empfindet schmerzhaft die tiefe Kluft, die ihn von der studierenden Jugend trennt, für die er nicht mehr ist als ein sonderbares Exemplar Mensch. Als er daran zweifelt, diese Kluft je überwinden zu können, will er sich töten, schießt sich mit einem Revolver in die Brust, das geschieht im Jahr 1887. Die Kugel verletzt die Lunge. Er, gerade einmal 19 Jahre alt, wird gerettet, aber die Verwundung ist die Ursache der später auftretenden Tuberkulose.

Zwei Jahre lang zieht Gorki durch das Don-Gebiet, dann durch die Ukraine, durch Bessarabien bis zur Donau, kehrt schließlich um, folgt der Schwarzmeerküste und erreicht über die Krim den Kaukasus. Er arbeitet bald hier, bald dort, lebt in Odessa unter Zigeunern, Fischern, Hafenarbeitern, Landstreichern, lässt sich für den Bau einer Eisenbahnstrecke anwerben und gerät immer wieder in abenteuerliche und auch gefährliche Situationen. Dann lässt er sich in Tiflis bei einem Verbannten nieder und findet dort ein revolutionäres Milieu von Studenten und Arbeitern vor. Kurz danach ist er selbst politischer Instrukteur. Und seine neue Umgebung drängt ihn zum Schreiben.

Seine erste Erzählung "Makar Tschudra" erscheint in der Provinzzeitung "Kaukasus". Den 12. (24.) September 1892, an dem diese Erzählung erscheint, betrachtet er fortan als seinen Eintritt in die literarische, künstlerische Laufbahn. In der Redakti­onsstube dieses Blattes wählt er, als man ihn drängt, die Erzählung zu signieren, ein Pseudonym. Aus Alexei Maximowitsch Peschkow wird Maxim Gorki.

Alsbald dringt er immer tiefer in das Milieu der Stadt ein, lernt die vergrämte, unheilvolle und schier aussichtslose Existenz ihrer Armen und Gestrandeten kennen. Es sind heruntergekommene Söhne aus guten Familien, die das Geld verachten, Bauern, die die Verbindung zur Landwirtschaft verloren haben, es aber nicht schaffen, in der Welt der Fabriken Wurzeln zu schlagen und es sind viele ziellose Studenten. Diese Menschen sind ständig in Bewegung, ihre Welt ist so labil wie sie selbst, sie befinden sich im Zustand der permanenten Auflehnung. Sie finden keinen Platz in der Gesellschaft, weil die überkommenen Verhältnisse nie mit Ihresgleichen gerechnet haben. Sie wissen zwar, gegen wen und was sie sich auflehnen, aber sie wissen noch nicht, nach welchen Prinzipien die andere, die neue und gerechte Gesellschaft zu ordnen sein wird. Sie alle werden die Vorbilder für Gorkis literarische Helden. Und damit zu Prototypen eines neuen Realismus, der mit dem traditionellen kaum noch etwas gemeinsam hat. Aufruhr und Protest sind in der russischen Literatur zwar seit jeher bekannt, aber Gorki führt einen neuen Ton ein, einen, der nicht nur der Verzweiflung Ausdruck verleiht und bestenfalls Mitgefühl hervorruft, sondern der ein Fanal für den Umsturz ist.

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Foto:
Maxim Gorki und Anton Cechov 1900 auf Jalta