kpm Petersburger Blutsonntag. Militar besetzt den Platz vor dem Winterpalais .jpgMaxim Gorki und die russische Oktober-Revolution von 1917, Teil 2/3

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Bereits Anton Cechov, Gorkis älterer Zeitgenosse, hatte das Motiv des ziellos Umherziehenden und permanent Protestierenden, des Bossjak, aufgenommen.

In einem Brief charakterisierte er diesen Personenkreis so: "Nicht für das Sektie­rertum, nicht für das Vagabundenleben, nicht für die Sesshaftigkeit, sondern ganz einfach für die Revolution hat die Natur derartige Wesen geschaffen ... nur wird es in Russland nie eine Revolution geben, und meine Bossjaks werden letztlich im Alkohol versinken oder ins Zuchthaus kommen. Sie sind überflüssige Menschen, weil ihnen das Land die Teilhabe und die Zukunft verweigert.»

Hier liegt der wesentliche und im Kern unüberwindbare Unterschied zwischen den beiden Schriftstellern. Gorki glaubt an die Revolution. Seine Landstreicher und Radaubrüder sind keine "überflüssigen Menschen", sie sind vielmehr Verkünder und Schaffer der Zukunft, genau wie der Held seiner Erzählung "Sturmvogel".

Cechov aber glaubt nicht an die Revolution, weil er meint, man könne sie nur von den Intellektuellen erwarten; er selbst aber hat jene, die die Mehrzahl seiner Helden ausmachen, als Menschen gezeichnet, die ohne Kraft und Hoffnung vor dem Leben kapitulieren. Gorki dagegen erwartet die Revolution vom Volk.

Eine Stimme der kleinen Leute, die verstanden wird

Als dieses Volk empfindet sich Gorki selbst, zumindest als sein künstlerischer Avantgardist. Geboren im Herzen Russlands, mit vielen Handwerken aus eigener Erfahrung vertraut, kennt er auch alle volkstümlichen und mundartlichen Ausdrücke. Seine Kenntnis der Volkssprache ist beeindruckend. Sie erhöht die Originalität seiner Werke. In Verbindung mit seiner dramatischen Schwarz-Weiß-Zeichnung ohne Zwischentöne und mit seinem Typ des vorrevolutionären Helden stellen seine Erzählungen eine attraktive Bereicherung der damaligen russischen Literatur dar.

Aber diese neue Art der Darstellung besitzt auch eine Kehrseite. Wenn Gorki seinen literarischen Figuren das Wort überlässt, wirkt die Sprache authentisch. Beschränkt er sich auf die Schilderung von Zusammenhängen, verlieren die Erzählungen schnell an Anschaulichkeit und Spannkraft, sogar an Intellektualität. In seiner Jugend bestand seine Lektüre fast ausschließlich aus minderwertigen Unterhaltungsromanen. Lange Zeit orientiert er sich an oberflächlich gezeichneten literarischen Figuren. Völlig befreien kann er sich von abgenutzten Klischees, verbrauchten Vergleichen und einer zweifelhaften Syntax nie. Als Romancier fällt er, sobald er aufhört, die einfachen Menschen im Original wiederzugeben, sobald er "selbst schreiben" will, ins Banale. Und er wiederholt sich ständig. Sogar in seinen geliebten Naturbeschreibungen über die unendlichen Weiten der Wolgalandschaft, über die Wälder und Steppen, besitzt er selten eine meisterliche Hand. Cechov warnt ihn vergeblich vor überschwänglichen Lyrismen, vor Anhäufungen von Adjektiven und ungerechtfertigten großen Worten.

Im russischen Publikum jedoch, das eine besondere Vorliebe für literarisch schlechte Verse hegt, wenn sie nur einen ideologischen Inhalt haben, findet seine lyrisch überhöhte Prosa einen bemerkenswerten Widerhall. Sein "Der Sturmvogel" wird als Aufruf zur Revolution verstanden. Der berühmte Refrain "Dem Wahnsinn der Tapferen ein Lied wir singen!" wird bald zum Gassenhauer der Revolution. Gorkis Vorstellung von proletarischer Revolution ist eine, die auf Gefühlen, auf je persönlich erfahrener Ungerechtigkeit und Diffamierung basiert. Die strukturellen Widersprüche des Feudalismus und des Kapitalismus, welche die Frage nach der Rolle des normalen Menschen im Kontext von Wirtschaft, Herrschaft und Nation aufwerfen, interessieren ihn literarisch nur am Rande, wenn überhaupt.

Am Anfang des neuen, des 20. Jahrhunderts ist Gorki bereits ein berühmter Mann. Sein Auftreten als ungehobelter bäuerlich-proletarischer Bär lässt sein Renommee nur weiter ansteigen. Im Frühling 1902 verhilft ihm ungewollt Zar Nikolaus II zu noch größerer Bekanntheit und Volkstümlichkeit. Die Akademie der Wissenschaften wählt Gorki zum Ehrenmitglied der Literaturklasse. Als Nikolaus II. diesen Beschluss aus dem Amtsblatt vom 1. März 1902 erfährt, schreibt er an den Rand: "Mehr als origi­nell!" und drückt in einem Brief an den Kultusminister sein Missfallen aus. Doch er erreicht damit das Gegenteil. Die Ehrenmitglieder der Akademie, Cechov und Korolenko, verwenden sich aus Solidarität für Gorki.


Der Petersburger Blutsonntag 1905

Dann kommt das schicksalsschwere Jahr 1905. In St. Petersburg herrscht Aufruhr. Arbeiter, unterstützt von dem Popen Gapon, haben für den 9. (22.) Januar einen "Marsch zum Winterpalais" beschlossen, um den Zaren auf ihre menschenunwürdige Lage aufmerksam zu machen. Doch die Regierung, die die Hintergründe nicht kennt oder von den realen Verhältnissen nichts wissen will, begegnet dem Marsch mit Gewalt. Die waffenlose Menschenmenge wird vor dem Winterpalais niedergemetzelt. Der Tag geht als "Blutsonntag" in die Geschichte ein.

Empört über das Vorgehen der Staatsmacht entwirft Gorki am Abend des Tages noch einen "Aufruf an alle russischen Bürger und an die öffentliche Meinung der europäischen Staaten" und übergibt das Manuskript Mitgliedern der Arbeiterdele­gation. Die Polizei findet das Dokument am nächsten Tag bei ihren Nachforschungen und kennt bald seinen Verfasser. Am 11. Januar bereits wird Gorki in der Peter-Pauls-Festung eingekerkert.

Der Staat bemüht sich eifrig, Beweise für eine Schuld Gorkis zu konstruieren. Doch da tritt ein unerwarteter Gegner auf den Plan - nämlich die öffentliche Meinung. Der Empörung im Land schließt sich mehrheitlich die europäische Presse an. Die zaristi­sche Regierung ist wie gelähmt, vermag mit dieser Art des internationalen Protests nicht umzugehen. Am 20. Februar 1905 wird Gorki gegen eine Kaution von 10.000 Rubel, die seine Verleger stellen, freigelassen.

Trotzdem verbannt ihn die Geheimpolizei bis zur Eröffnung eines Prozesses nach Riga. Dort beginnt er unverzüglich damit, alles Material über die Vorgänge des 9. Januars zu sammeln.

Schon kurz darauf möchte die Regierung von einem Prozess Abstand nehmen und versucht, die Vorgänge zu vertuschen. Aber Gorki geht darauf nicht ein. Er will vor Gericht erscheinen, will notfalls verurteilt werden:

"Das Gericht wird für mich sein, und die Schmach wird über die Familie Romanow und Konsorten kommen. Wenn es zur Verhandlung kommt und ich verurteilt werde, habe ich eine ausgezeichnete Gelegenheit, Europa zu erklären, warum ich mich ge­gen das herrschende Regime auflehne - ein Regime, das friedliche und waffenlose Menschen, darunter sogar Kinder, hinschlachten lässt - und dem es anzulasten ist, warum ich mich den Revolutionären angeschlossen habe."

Die Regierung aber setzt auf Zeit und beendet im Oktober 1905 das Verfahren durch eine Amnestie; zeitgleich werden politische Lockerungen und eine neue Verfassung angekündigt.

Während der wenigen Tage der Haftaussetzung nimmt Gorki an der Gründung der ersten legalen bolschewististischen Tageszeitung NEUES LEBEN teil, deren Chefredakteur Lenin ist. In diesem Blatt erscheinen seine "Notizen über den Geist des Spießbürgertums", die die Liberalen gegen ihn aufbringen, die aber Lenins Beifall finden.


Foto:
Petersburger Blutsonntag: Militär besetzt den Platz vor dem Winterpalais © Bayerischer Rundfunk