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Kategorie: Zeitgeschehen
kpm Forderturm der Zeche Gneisenau in DortmundProfile der 68er. Teil 1/4

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Wer sich im letzten Drittel der 1960er Jahre bis zum Rücktritt Willy Brandts 1974 bei den politischen Protesten engagierte, verstand sich als ein Bestandteil jener großen Verweigerung, die später als 68er – Bewegung bezeichnet wurde. Einer von ihnen war Rolf Denter, ein evangelischer Pfarrer aus Dortmund.

Aus Rücksicht auf seine Persönlichkeitsrechte sowie die seiner Familie und anderer Beteiligter wurden ihre Namen und die Bezeichnungen der Schauplätze in Dortmund verändert. Die geschilderten Ereignisse selbst entsprechen den tatsächlichen Vorgängen.

Im 19. April 1967 starb Konrad Adenauer, der erste Kanzler der Bundesrepublik und nach Meinung seiner Gegner der Mitinitiator einer konservativen Restauration, die sich in Teilen gar als Renazifizierung vollzog. Es war ein Freitag. Zwei Tage danach war ich Gast bei der Konfirmation in einer Dortmunder Gemeinde. Der Gemeindepfarrer, den ich in der nachfolgenden Erzählung Rolf Denter nenne, hatte mich zwei Monate zuvor dazu eingeladen.

Wir kannten uns flüchtig, mehr vom Sehen als durch Gespräche. Das Dortmunder Büro der »Kampagne für Demokratie und Abrüstung«, welche die alljährlichen Ostermärsche der Atomwaffengegner in der Region organisierte, war unser gelegentlicher Treffpunkt. Im Februar dieses Jahres 1967 saßen wir bei der Auftaktkundgebung im Hans-Sachs-Haus in Gelsenkirchen zufällig nebeneinander. Waren am Vormittag den brillanten Ausführungen des Politologen Johannes Agnoli über die Transformation der Demokratie in Deutschland gefolgt. Hatten uns im Anschluss von Franz Josef Degenhardt, Dieter Süverkrüp und Hanns Dieter Hüsch begeistern lassen und dem Dortmunder Arbeiterschriftsteller Max von der Grün zugehört. Seine Kritik an den alten Mächtigen des Ruhrgebiets, den Krupps, Thyssens, Kirdorfs, entsprach auch unserer Überzeugung. Seinen Roman „Irrlicht und Feuer“ hatten wir als authentisches Zeitzeugnis verstanden.

Bei dieser Gelegenheit fragte ich Denter, welche Möglichkeiten er als evangelischer Pfarrer besäße, von Fall zu Fall auch politisch zu predigen.

»Ich besitze nominell die Freiheit, alles, was sich mit der Bibel und den Bekenntnisschriften der lutherischen und reformierten Kirchen seriös begründen lässt, auf der Kanzel zu sagen. Auch politische Aussagen, falls sie nicht direkt parteipolitisch wären. Theoretisch. Die Wirklichkeit sieht hingegen häufig anders aus. Aber ich lade Sie ein, eine meiner nächsten Predigten zu besuchen. Am 21. April konfirmiere ich die diesjährigen Konfirmanden meiner Gemeinde. Dann werde ich mal wieder versuchen, Gott und Welt auf einen Nenner zu bringen.«
Er gab mir seine Visitenkarte, auf der er Ort, Datum und Beginn der Feier notiert hatte. Ich versprach zu kommen.

Und ich löste mein Versprechen ein. Um 10 Uhr morgens an diesem 21. April saß ich mit über 200 Menschen in der kleinen evangelischen Kirche in Dortmund-Oberbecker und wartete mit ihnen auf Pfarrer Denter. Doch der kam nicht. Die Konfirmanden feixten bereits, ihre Angehörigen wurden ungeduldig, etliche zeigten sich verärgert. Nach einer geschätzten halben Stunde Zuwartens ging ein Mitglied des Kirchenvorstands hinüber ins benachbarte Pfarrhaus. Wenige Minuten danach kehre er mit Rolf Denter zurück.

Der machte einen mitgenommenen, gar verwahrlosten Eindruck. Das blasse Gesicht wies rötliche Flecken auf; sein Haar war zerzaust, er wirkte verschwitzt und seine Bewegungen waren fahrig. Talar und Bäffchen saßen nicht korrekt. Vor der Treppe zur Kanzel verharrte er zunächst, dann erklomm er mühsam die wenigen Stufen. Oben angekommen wandte er sich an die Gemeinde und bat sie mit krächzender Stimme, die ersten zwei Strophen aus dem Lied »Befiehl du deine Wege« zu singen. Pfarrer Denter war offensichtlich angetrunken. Oder er hatte sich von einem kräftigen Rausch noch nicht erholt.

»Ich hatte einen Grund zu feiern«, begann er nach dem Eröffnungslied die Konfirmationspredigt. »Einer meiner politischen Gegner, Konrad Adenauer, ist vor zwei Tagen gestorben. Und ich bin darüber nicht traurig. Vielmehr habe ich auf seinen Tod gewartet. Als die Nachricht kam, habe ich mir eine Flasche Cognac gegönnt. Jetzt bin ich neugierig auf den Tag des Jüngsten Gerichts. Auf welcher Seite wird Adenauer stehen? Bei den Gerechten? Oder bei denen, die auf ewig verdammt sein werden? Ich bin mir meiner Sache sicher. Liebe Konfirmanden, versucht, in dem langen Leben, das ihr noch vor euch habt, immer Partei für die Gerechten zu ergreifen. Liebet eure Nächsten, steht in ihnen bei, wenn sie der Hilfe bedürfen. Übt Gerechtigkeit gegenüber jedermann.«

Dann stieg er unbeholfen die Kanzel herab, ging auf die in der ersten Reihe sitzenden Konfirmanden zu und forderte sie durch ein Handzeichen auf, sich zu erheben. Nachdem sie einen Halbkreis gebildet hatten, schritt er an ihnen langsam vorbei und strich dabei jedem flüchtig übers Haar, sprach den Segen und eilte hinaus.

Der größte Teil der Anwesenden zeigte sich entsetzt. Der Vorsitzende des Presbyteriums trat nach vorn, bat um Entschuldigung, äußerte die Vermutung, dass Pfarrer Denter krank sei. Dann forderte er die Gemeinde auf, zum Abschluss noch das Lied »Wer nur den lieben Gott lässt walten« zu singen. Danach endete die Feier, die eigentlich keine gewesen war.

Ich habe Rolf Denter nach diesem Vorfall nie mehr getroffen, auch nicht mit ihm telefoniert oder ihm geschrieben. Weil ich nicht wusste, wo er sich seit jener denkwürdigen Konfirmation aufhielt. Denn danach schien er untergetaucht zu sein.

Im Sommer 1969 hörte ich von dem Gerücht, er hätte sich nach dem Vorfall einer mehrmonatigen Entziehungskur mit Erfolg unterzogen und sei seither als Religionslehrer an einer Berufsschule tätig. Im Herbst 1971 hieß es, er würde wieder sein früheres Pfarramt in Dortmund-Oberbecker bekleiden, es gäbe aber erneut erhebliche Meinungsverschiedenheiten mit dem Kirchenvorstand. In dem Streit ginge es um die politische Zurückhaltung, die Pfarrern auferlegt sei. Eine Vorgabe, die von der Kirche im Sinne ihres pluralistischen Selbstverständnisses sehr vage formuliert sei und die Denter darum in seinem eigenen Sinn auslege. Dann verstrichen mehr als drei Jahre, während denen ich nichts mehr über ihn hörte. Bis ich Ende April 1975 auf eine Todesanzeige in der WAZ stieß. Seine Frau und sein Sohn beklagten darin, dass Pfarrer Rolf Denter am 22. April in Dortmund den Folgen einer langen Krankheit erlegen sei.

Im Juni des folgenden Jahres erzählte mir ein ehemaliger Mitstreiter aus der Ostermarschbewegung, den ich zufällig auf dem Dortmunder Hauptbahnhof wieder traf, dass langjähriger und exzessiver Alkohol- und Tablettenkonsum zu Denters Tod geführt hätten. Dieser Missbrauch sei eine Folge der vielfältigen Repressalien gewesen, denen sich der »rote Pfarrer« über mehr als ein Jahrzehnt hindurch ausgesetzt gesehen hatte. Frau Denter sei wenige Wochen nach der Beerdigung nach Süddeutschland gezogen; Karl Friedrich, der Sohn, der kurz vor der Ordination zum Pfarrer gestanden habe, sei nach Westberlin gegangen und dort Journalist bei der linken Zeitschrift »Konkret« geworden.

Jetzt wollte ich doch mehr Informationen über Rolf Denters Leben, sein Wirken als Pfarrer und seine politischen Positionen einholen. Denn die so völlig aus dem Ruder gelaufene Konfirmationsfeier, der ich als unbeteiligter Zeuge beigewohnt hatte, war zu einem markanten Punkt meines eigenen Lebens geworden. Wer kann schon mit solchen Erlebnissen aufwarten?

Über eineinhalb Jahrzehnte, bis zum Herbst 1991, habe ich recherchiert. Dann endlich nahm aus den unzähligen Mosaiksteinchen ein Mensch Gestalt an, dem ich gern früher und viel öfter begegnet wäre.

Meine wichtigste Quelle war Peter Wilken, ein Gartenbau-Architekt. Er gehörte von 1966 bis 1981 dem Presbyterium, also dem Vorstand, der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Oberbecker an und versah das Amt des ehrenamtlichen Friedhofsverwalters. Zwischen 1972 bis 1995 war er Mitglied der Gesamtsynode des Kirchenkreises Dortmund und gehörte dem Ausschuss für Öffentlichkeitsarbeit an.
In dieser Eigenschaft nahm Wilken im Frühjahr 1992 an einer Fortbildung für Redakteure von Gemeindebriefen im Haus der evangelischen Publizistik in Frankfurt teil, die ich leitete. Dabei wurden weiterführende Seminare in einzelnen, zumeist größeren, Gemeindeverbänden vereinbart. So führte mich mein beruflicher Weg im Herbst 1992 in meine Heimatstadt Dortmund zurück. Mein Ansprechpartner dort war Peter Wilken. Bei den Gesprächen mit ihm stellte sich heraus, dass er in jener Gemeinde lebte, in der Rolf Denter lange Jahre Pfarrer gewesen war, nämlich in Oberbecker. Und die beiden hatten sich gekannt, sogar gut gekannt. Sie waren keine Freunde gewesen, eher inhaltliche Gegner, die einander jedoch mit Hochachtung begegnet waren. Ich erzählte Peter Wilken von meinen wenigen Begegnungen mit Denter, vor allem von der im Alkoholrausch untergegangenen Konfirmation 1967 und meinen bislang vergeblichen Versuchen, etwas über den weiteren Weg Denters in Erfahrung zu bringen.

Wilken deutete an, dass Denter noch Jahre nach seinem Tod ein immer wiederkehrendes Thema des Kirchenvorstands gewesen war, weil am Beispiel seiner Person die Trennung zwischen Kirche und Welt jedem neuen Vorstandsmitglied und jedem neuen Pfarrer exemplarisch erörtert wurde.
Er selbst hätte Anfang der 1970er Jahre mehrere Auseinandersetzungen zwischen Pfarrer Denter und Mitgliedern des Presbyteriums als Augen- und Ohrenzeuge mitbekommen. Auch bei der besagten Konfirmation sei er anwesend gewesen. Und er hätte den Tod Denters aus nächster Nähe miterlebt. Die Begleitumstände seien ebenso skandalträchtig gewesen wie die Einsegnung der Konfirmanden 1967. Er habe bereits im April 1975 mit der Anfertigung eines persönlichen Protokolls begonnen, weil er fürchtete, Presbyterium und Synode würden in staatsanwaltliche Ermittlungen über Rolf Denters Tod einbezogen werden. Auch unmittelbare Zeugen habe er befragt und noch bis zur Jahreswende 1979/1980 Kontakte mit Karl Friedrich Denter, dem Sohn, unterhalten.

Ich habe Peter Wilkens Aufzeichnungen, die er mir gegen seinen ursprünglichen Willen schließlich doch vollständig überlassen hatte, durchgearbeitet, Gegenrecherchen angestellt, welche die beschriebenen Sachverhalte im Kern bestätigten, und die nachfolgende Skizze angefertigt.

Foto:
Förderturm der Zeche Gneisenau in Dortmund
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