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Kategorie: Zeitgeschehen
kpm Die 1985 stillgelegte Zeche Gneisenau in DortmungProfile der 68er. Teil 4/4

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Karl-Friedrich Denter erwachte wie aus einem Alptraum.

Es bedurfte einiger Konzentration, um zu realisieren, wo er sich befand. Die Ereignisse dieses Tages, dazu die Lektüre der Texte und das Erinnern hatten ihn müde gemacht, er war ihm Sessel eingeschlafen.

So hatte er es einige Monate später ausführlich Peter Wilken erzählt. Da waren die Entscheidungen, die er sich vorgenommen hatte, längst gefallen, längst umgesetzt. Doch zunächst noch einmal zurück zu jenem 22. April.

Karl-Friedrich sah auf die Uhr, es war 19:30 Uhr, draußen dämmerte es. Abrupt richtete er sich auf und suchte seine Mutter. Die saß im Bibliothekszimmer an ihrem Sekretär, ordnete Dokumente und wirkte äußerlich ruhig.
„Ich wollte dich nicht wecken, Karl-Friedrich“, rief sie ihm leise entgegen. „Du hast einen schweren Tag hinter dir und höchstwahrscheinlich wird noch einiges auf dich zukommen; denn ich werde deine Unterstützung benötigen. Ich habe Superintendent Heusinger angerufen und ihn informiert. Pfarrer Hahn aus Niederbecker wird die Gottesdienste am nächsten und übernächsten Sonntag übernehmen und auch Rolf beerdigen. Rufe bitte Herrn Heusinger morgen Vormittag an; er wird dich bis zur Trauerfeier beurlauben. Unser Friedhofsverwalter Peter Wilken wird morgen früh kommen wegen der Grabstätte; zusammen mit Herrn Rousseau, dem Bestatter. Es wäre sehr freundlich, wenn Du mir diese Gespräche abnehmen könntest.“
„Ja, sicherlich, Mutter. Aber wie geht es dir?“

„Mir geht es jetzt etwas besser, obwohl ich sehr, sehr niedergeschlagen bin und mir zum Heulen zumute ist. Aber insgeheim habe ich ein solches Ende kommen sehen. Wir alle wussten ja seit dem letzten Herbst von Rolfs Leberzirrhose. Doch wir hatten noch Hoffnung, sogar sehr viel Hoffnung. Und der Arzt hat uns darin bestärkt. Auch bin ich davon ausgegangen, dass dein Vater sein Alkoholproblem etwas in den Griff bekommen hat. Aber höchstwahrscheinlich habe ich mich wieder einmal einer Selbsttäuschung hingegeben – wie so häufig während der letzten zehn Jahre.“

Karl-Friedrich nahm den gedanklichen Faden auf.

„Mache dir bitte keine Vorwürfe. Auch ich habe es geahnt und doch immer wieder verdrängt. Und Vater hat es mir während der letzten Monate nicht leichtgemacht, die Sprache auf etwas anderes als auf Politik zu bringen. Für Persönliches war kaum noch Platz. Er litt, litt an seinem Leben, an seinem Beruf, an seiner Krankheit, an seiner Kirche, eigentlich an allem. Heute Nachmittag, als ich in seinen Predigttexten und Notizen las, habe ich mich gefragt, was ich aus seinem Schicksal, das sicherlich nicht gottgewollt war, lernen kann, ja, was ich unbedingt daraus lernen muss.“

Ursula Denter sah ihren Sohn fest an.

„Du sprichst aus, was mich schon lange bewegt. Rolfs Tod fordert mich heraus, noch vielmehr, als mich sein Leben herausgefordert hat. Ich bin jetzt 54 Jahre alt, organisch gesund und finanziell halbwegs abgesichert. Ich muss fort aus dieser kleinen Welt, ich ertrage sie nicht mehr. Wohin ich gehen werde, weiß ich noch nicht. Rolf werde ich dabei niemals vergessen. Er war meine große Liebe und ist es noch. Aber jetzt muss ich zu mir selbst finden. Wo kann ich eine Aufgabe übernehmen, die ich voll bejahe? Die Rolle als Pfarrersfrau hat mir viel Überwindung abgefordert, weil ich allzu oft gegen persönliche Einsichten verstoßen musste. Der Pluralismus der Kirche war mir mindestens so widerwärtig wie deinem Vater.“

Karl-Friedrich Denter trat neben seine Mutter und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

„Noch bis heute Vormittag, also, bis mich die Nachricht von Vaters Tod erreichte, habe ich mich darauf gefreut, bald eine Gemeinde übernehmen zu können. Vaters Beispiel hat mich immer angespornt. Ich wollte ihm nacheifern. Zwar etwas diplomatischer sein als er, aber im Kern das vertreten, was auch sein Lebensziel war. Nämlich denen eine Stimme zu geben, die stumm und schwach sind. Damit ihnen Gerechtigkeit widerfährt. Doch als ich heute Nachmittag in Vaters Predigttexten las, kamen mir Zweifel. Es mag sein, dass ich auf die Schulte-Althoffs und die Hangebraucks dieser Welt anders reagieren würde. Höchstwahrscheinlich sogar. Aber meine Aussichten, etwas verändern zu können, würden vermutlich ähnlich gering sein. Kurz bevor ich eingeschlafen war, hatte ich einen vagen Entschluss gefasst. Jetzt wird er mir immer klarer: Ich werde kein kirchliches Amt mehr anstreben. Ich will nicht länger Menschen auf kleinstem gemeinsamem Nenner zusammenführen müssen, sondern ich muss polarisieren, möglicherweise zunächst spalten, statt vorschnell zu versöhnen. Heißt es doch im Evangelium des Lukas: „Ich bin gekommen, dass ich ein Feuer anzünde auf Erden; was wollte ich lieber, es brennete schon! [...] Meint ihr, dass ich hergekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage: Nein, sondern Zwietracht.“ Vielleicht kann ich als Lehrer oder als Journalist für das Reich Gottes auf Erden wirken. Zum Pfarrer aber eigne ich mich nicht. So wie auch Vater nie ein Hirte seiner Gemeinde war. Das ist sein Vermächtnis und ich will dieses Erbe annehmen.“

Peter Wilkens Bericht enthält auch noch Hinweise auf den Weg, den Karl-Friedrich Denter eingeschlagen hat, auch wenn er diesen nur bis zur Jahreswende 1979/1980 verfolgen konnte. Der legte im Oktober 1975 das zweite theologische Examen an der Universität Bochum ab, verzichtete aber auf die Ordination zum Pfarrer. Zuvor hatte er seiner Mutter beim Umzug nach Karlsruhe geholfen. Im Dezember desselben Jahres zog er nach Berlin, wo er halbtags im Lektorat eines Verlags arbeitete, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Parallel dazu begann er seine journalistische Tätigkeit. So berichtete er über Rudi Dutschkes Versuche, Mitgründer für eine neue linke Partei zu finden. Und über die linke Opposition in der DDR, vor allem über Robert Havemann und Rudolf Bahro. Zeitschriften aus dem unabhängigen linken Spektrum druckten seine Recherchen, Dokumentationen und Essays ab. Auch der andauernde Kampf gegen die Berufsverbote fand in seiner Berichterstattung einen ausführlichen Niederschlag.

Im April 1976 zog er nach Bremen, arbeitete dort als freier Journalist für mehrere Zeitschriften und engagierte sich in der Anti-Atomkraft-Bewegung an Unterweser (Esensham) und Unterelbe (Brokdorf). Im Zusammenhang mit dem Störfall im US-amerikanischen Atomkraftwerk Harrisburg im Frühjahr 1979 finden sich von ihm ausführliche Berichte und Kommentare zu diesem Thema in mehreren deutschen Zeitungen und Magazinen.

Ähnlich wie Rudi Dutschke trat er dafür ein, dass die sich die neu bildende Umweltschutzbewegung als eindeutig antikapitalistisch positionierte. In diesem Sinn verfasste er auch einen Nachruf auf Rudi Dutschke, der Weihnachten 1979 an den Spätfolgen des Attentats von 1968 starb.

Im Januar 1980 riss der Kontakt zwischen Peter Wilken und Karl-Friedrich Denter ab. Briefe an dessen Bremer Adresse kamen als unzustellbar zurück. Wilkens Versuche, mit Karl-Friedrichs Mutter in Karlsruhe in Kontakt zu treten, scheiterten, weil er ihre Adresse nicht kannte und auch nicht wusste, ob sie direkt in Karlsruhe oder in dessen Umgebung lebte. Karl-Friedrich Denter selbst hatte sich bei ihm nicht mehr gemeldet.

Als ich im Frühsommer 1995 die vorläufige Fassung meiner Geschichte über Rolf Denter, den roten Pfarrer, abgeschlossen und sie Peter Wilken zum Gegenlesen gesandt hatte, war die Spur des Sohnes seit 15 Jahren versandet. Ähnlich wie die Erinnerung an den Vater, der 20 Jahre nach seinem Tod keinem, den ich in Dortmund – Oberbecker auf ihn ansprach, noch ein Begriff war.

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Die 1985 stillgelegte Zeche Gneisenau in Dortmund
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