kpm SPD Parteitag stimmt fur Koalitionsverhandlungen mit CDU und CSU... und die alten Irrtümer wiederholen

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Einige Kommentatoren halten derzeit eine neue Große Koalition für das Gebot der Stunde. Andernfalls drohten eine instabile Regierung, letztlich gar Neuwahlen mit erheblichen politischen Verwerfungen. In der „Frankfurter Rundschau“ stellt Arno Widmann bei der SPD gar einen Willen zur Ohnmacht fest.

Ich hingegen konstatiere auf der Basis empirischer Daten einen Realitätsverlust im Kontext zunehmender intellektueller Verarmung des SPD-Spitzenpersonals. Denn die Sozialdemokraten haben seit der Bundestagswahl von 1998, als sie 40,9 Prozent der Stimmen erhielten, in den anschließenden fünf Bundestagswahlen insgesamt 20,4 Prozent Zustimmung verloren (2017 erreichten sie 20,5 Prozent). Nach der Nominierung von Martin Schulz und dessen Forderung nach einer gerechteren Gesellschaft kletterten die Umfragewerte im März und April 2017 auf 31 Prozent; im März lag die SPD sogar gleichauf mit CDU/CSU.

Die Aufbruchstimmung brach jedoch in dem Umfang wieder ein, wie die sozialpolitischen Forderungen nicht konkretisiert wurden. Das ist ein eindeutiger und nicht zu entkräftender Hinweis auf das Grundproblem dieser Partei. Denn seit Gerhard Schröders Agenda-Politik ist sie zum Synonym für soziale Unglaubwürdigkeit geworden. Bekennt sie sich dagegen ohne Wenn und Aber zu den ursprünglichen sozialdemokratischen Werten (vor allem zu denen des Gothaer Programms), gewinnt sie wieder bei denen, die ihr verloren gegangen sind und auf die sie angewiesen ist, um politische Veränderungen durchzusetzen.

Der jetzt als „Ikarus von Würselen“ verspottete Martin Schulz erweist sich im Nachhinein als verfehlte Wahl einer Partei-Oligarchie, die über die Probleme des Landes entweder nichts mehr weiß oder sie nicht verinnerlicht hat. Schulz hat als Präsident des EU-Parlaments jene „Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft“ passieren lassen, die seit ihrer Umsetzung in das deutsche Urheberrecht kleine und mittlere Verlage an den Rand der Existenz gebracht hat. Denn seither kommen Zweitverwertungen nur noch den Autoren zu Gute, obwohl Schriftsteller ohne einen professionellen Verlag nichts auszurichten vermögen. Die Verlage müssen sie nachträglich entschädigen, was den kleineren die Substanz kostet. Der Buchhändler Martin Schulz hätte das wissen müssen. Durch sein Nichteingreifen hat er viele, die im Kulturbereich arbeiten und traditionell SPD wählen, verärgert.

Oder das: Die durch eine EU-Verordnung erweiterte Pflicht zur Veröffentlichung von Bilanzen bereitet kleinen Kapitalgesellschaften große Probleme. Sie stehen dadurch unter einem zusätzlichen Kostendruck, der lediglich den Steuerberatern und dem amtlichen Bundesanzeiger zu Mehreinnahmen verhilft. Gegen die Steuervermeidungsstrategie großer Gesellschaften wurde hingegen nichts unternommen. Die Europäische Union erscheint dem kritischen Beobachter immer mehr als ein Spielball neoliberaler und global agierender Konzerne. Brüssel quillt mittlerweile über vor Lobbyisten. Wollte Martin Schulz das nicht sehen? Oder konnte er es nicht?

Während des Landtagswahlkampfs in NRW habe ich mich immer wieder gefragt, warum Martin Schulz seiner Parteigenossin Hannelore Kraft nicht die Augen öffnete. Denn die hat die Realität im Ruhrgebiet, das erkennbar unter die Räder geraten war, völlig ausgeblendet und lediglich den geschönten Berichten ihrer Lakaien Glauben geschenkt.

Einen Willen zur Ohnmacht vermag ich dennoch weder in der Führungsriege der Partei noch bei der Mehrheit der Mitglieder zu erkennen, eher könnte das Gegenteil der Fall sein. Allerdings wird politische Macht vielfach in dilettantischer Weise mit persönlicher Karriere gleichgesetzt. Dieser Charakterfehler hat eine lange Tradition.

Bereits im „Manifest der Kommunistischen Partei“ von 1848 warfen Marx und Engels den deutschen bzw. den wahren Sozialisten (faktisch Vorläufern der Sozialdemokratie) vor, sie orientierten sich am deutschen Spießbürger als dem Normalbürger und proklamierten die deutsche Nation als die normale Nation. Mit dieser Einschätzung wurde die Befürchtung ausgedrückt, dass die seinerzeitigen Sozialisten weder Feudalismus noch Kapitalismus wirklich infrage stellten, sondern eine Art Ausgleich zwischen Unterdrückern und Unterdrückten erzielen wollten – also die sowohl physikalisch als auch politisch unmögliche Quadratur des Kreises als die beste aller Welten priesen. Das Verhängnisvolle eines solchen Programms der Anpassung zeigte sich in seiner drastischsten Konsequenz, als die SPD in „vaterländischer“ Gesinnung die Kriegskredite des Kaiserreichs billigte.

Eine ähnliche und folgenreiche Unentschlossenheit in der ersten Phase nach dem Ende der NS-Diktatur wies der Soziologe Theo Pirker in seinem 1965 erschienenen Buch „Die SPD nach Hitler“ nach. Ein vergleichbares programmatisches und praktisches Versagen warf er auch den Gewerkschaften vor, die er als „blinde Macht“ bezeichnete (Titel eines Buchs aus dem Jahr 1960).

Erst während der kurzen Kanzlerschaft Willy Brandts, vor allem in den Monaten zwischen dem Misstrauensvotum im April und der vorgezogenen Bundestagswahl im November 1972, gab es Ansätze, diese unselige Bereitschaft zu Opportunismus und zu Kompromissen abzulegen. Unter Helmut Schmidt wendete sich das Blatt alsbald wieder. In dessen Umfeld konnte nur ein intellektuelles Mittelmaß gedeihen, das erneut und vollständig auf Anpassung setzte und Veränderung als unrealistische Utopie abtat. Selbst in der sechzehnjährigen Ära Kohl, während der eine „geistig-moralische Wende“ verkündet und in Teilen umgesetzt wurde, vermochte die SPD nicht, sich in der Opposition zu erneuern und wirkliche Alternativen zu entwickeln.

Gerhard Schröder erwies sich inhaltlich als Helmut Schmidt-Kopie, zeigte jedoch im Gegensatz zu diesem die negativen Eigenschaften eines Emporkömmlings. Das manifestierte sich in seiner Komplizenschaft mit Carsten Maschmeyer und Konsorten, die die staatliche Rente zu Gunsten ihrer Privatversicherungen kleinrechneten – letzteres mit Hilfe eilfertiger Gutachter wie Bernd Raffelhüschen und Bert Rürup. Am Wesen dieses Kanzlers der Wirtschaft krankt die SPD bis heute. Und das wird andauern, solange, bis Männer und Frauen mit demokratischer Verwegenheit sämtliche Schröders samt ihrer Begehrlichkeiten der Partei verweisen und die Agenda-Politik auf den Kehrichthaufen der Sozialgeschichte verbannen. Dazu bleibt allerdings nur noch sehr wenig Zeit.

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SPD-Parteitag stimmt nach der Sondierung für Koalitionsverhandlungen mit CDU/CSU
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