kpm 1957 175 Bundestagssitzung in BerlinDie Nationalhymne in geschlechtsneutraler Sprache

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Die Gleichstellungsbeauftragte im Bundesfamilienministerium hatte angesichts des Weltfrauentags eine Idee. Sie regte an, in der Nationalhymne geschlechtsspezifische Formulierungen durch geschlechtsneutrale zu ersetzen.

Dieser Vorstoß überzeugt nicht, weil eine Sprache auch Protokollant einer Epoche ist. Angesichts der Geschichte dieses Lieds erscheint er mir sogar als naiv und unhistorisch.

Zwar kann man seinen Dichter, den Germanisten August Heinrich Hoffmann, der aus dem Ort Fallersleben stammte (welcher heute zu Wolfsburg gehört), nicht zu den völlig unreflektiert schreibenden vaterländischen Poeten seiner Zeit zählen (wie z.B. Ernst Moritz Arndt). Dennoch wollte er mit seinem „Lied der Deutschen“ ein betont nationales Zeichen setzen. Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass er es im Ausland verfasste, nämlich auf der damals britischen Insel Helgoland (er datierte es auf den 26. August 1841; der Tausch des Eilands gegen die deutsche Kolonie Sansibar wurde erst 1890 vollzogen).

Der zeitgeschichtliche Anlass des Lieds ist bekannt: Der eine war die so genannte Rheinkrise, als sich in Frankreich Stimmen mehrten, die Ansprüche auf die deutschen Gebiete westlich des Rheins erhoben. Diese beriefen sich neben den Annektierungen im Pfälzischen Erbfolgekrieg (1688 – 1697) vor allem auf die Besetzung der Pfalz nach dem Ersten Koalitionskrieg, den Preußen und Österreich gegen die französische Revolutionsregierung führten. Diese währte von 1798 bis zum Ende Napoleons 1814. Der zweite Anlass war die deutsche Kleinstaaterei, die Deutschland nach Auffassung patriotischer Kreise schutzlos möglichen Angriffen seiner Nachbarn aussetzte.

Hoffmann orientierte sich beim Versmaß seines Lieds bewusst an der österreichischen Kaiserhymne „Gott erhalte Franz, den Kaiser“, die von Joseph Haydn im Auftrag von Franz II (1768 – 1835), dem letzten Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, vertont worden war. Indirekt idealisierte Hoffmann damit auch dieses untergangene Reich.

Selbst in der ersten deutschen Republik, der von Weimar, ist man nicht geschichtsbewusst mit dem Gedicht umgegangen. Der sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert bestimmte 1922 das Lied zur deutschen Nationalhymne.
Im NS-Staat wurde lediglich die erste Strophe gesungen („Deutschland, Deutschland, über alles“), auf die grundsätzlich das „Horst-Wessel-Lied“ der SA folgte.

Die Bundesrepublik Deutschland besaß zunächst keine offizielle Hymne. Erst durch einen offiziellen Briefwechsel von 1952 zwischen Bundespräsident Theodor Heuss (FDP) und Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) wurde entschieden, dass Hoffmanns „Lied der Deutschen“, das bereits seit 1950 inoffiziell wieder verwendet wurde, weiterhin Nationalhymne bleiben sollte. Gesungen wird jedoch seither ausschließlich die dritte Strophe.
Gegen Adenauer nicht durchsetzten konnte sich Theodor Heuss mit seinem Vorschlag, Rudolf Alexander Schröders von traditionellen christlichen Wertvorstellungen durchdrungenes Gedicht „Hymne“ zur Nationalhymne zu bestimmen:

„Land des Glaubens, deutsches Land,
Land der Väter und der Erben;
Uns im Leben und im Sterben
Haus und Herberg, Trost und Pfand...“.

Auch ein anderes Lied galt während der Gründungsphase der Bundesrepublik als mögliche Alternative. Nämlich Hans Ferdinand Maßmanns „Ich hab‘ mich ergeben“. Es beginnt mit dem Vers:

„Ich hab mich ergeben
mit Herz und mit Hand
dir, Land voll Lieb’ und Leben,
mein deutsches Vaterland!“

Der Text atmet die Stimmung der patriotischen Studenten des frühen 19. Jahrhunderts und würde heute sicherlich ebenfalls einer pauschalen Genderkritik unterzogen werden. 1949/50 wurde es verworfen, weil sich durch seine Bezüge zu Martin Luther die andere christliche Konfession hätte benachteiligt fühlen können.

Die Diskussion um eine gemeinsame deutsche Hymne war für Bertolt Brecht 1950 Anlass für einen Gegenentwurf, der keine nationalistische und revanchistische Interpretation zulassen sollte. Brecht nannte seinen Text „Kinderhymne“, weil sie im Rahmen eines gleichnamigen Gedichtzyklus entstanden war. Die erste Strophe lautet:

„Anmut sparet nicht noch Mühe,
Leidenschaft nicht noch Verstand,
dass ein gutes Deutschland blühe
wie ein andres gutes Land.“

Das Versmaß entspricht dem des Deutschlandlieds, sodass es auch zur Melodie von Joseph Haydn gesungen werden kann. Hanns Eisler komponierte jedoch auch eine eigene. Kinderhymne, Deutschlandlied und sogar die DDR-Hymne „Auferstanden aus Ruinen“ (Text von Johannes R. Becher, Melodie von Hanns Eisler) können zur Melodie der jeweils anderen Hymne gesungen werden.
Sowohl die Regierung der Bundesrepublik als auch die der DDR lehnten damals Brechts Text ab.

Vor der Wiedervereinigung 1990 wurde erneut über eine zeitgemäße gemeinsame Hymne diskutiert. Dabei fand Brechts Kinderhymne vor allem in Ostdeutschland, aber auch unter Literaten große Zustimmung. Maßgebliche Repräsentanten Westdeutschland wie Richard von Weizsäcker lehnten eine neue Hymne jedoch ab.

Wenn sich die Gleichstellungsbeauftrage im Bundesfamilienministerium nunmehr an der einseitig männlichen Sprache des Textes stört und eher kunstlose Änderungen vorschlägt, wäre es eigentlich an der Zeit zu einem großen Schritt. Nämlich zurück zu Brechts Kinderhymne.

Die Verfechter einer geschlechtsneutralen Sprache übersehen die Bedeutung, welche eine Sprache als Zeitzeugnis besitzt. Denn würde man die Weltliteratur umschreiben, erwiese man damit nicht zuletzt religiösen Fundamentalisten einen riesengroßen Gefallen. So ist beispielsweise das Alte Testament durch kaum übersehbare Widersprüche gekennzeichnet, was vor allem den christlichen Fanatikern immer schon ein Dorn im Auge ist. Diese Disparatheiten belegen eindeutig die Veränderung des Gottesgedankens als Folge jeweils neuer Vorstellungen über das Wesen des Menschen, über Moral, Recht und Sitten einschließlich der gesellschaftlichen Stellung der Frau im Verlauf von ca. 1.000 Jahren. Eine geschlechtsneutrale Vereinheitlichung könnte von weniger Gutinformierten als Indiz für die Allwissenheit Gottes verstanden werden (der von Anbeginn an die Gleichheit von Mann und Frau im Sinn hatte) und sogar auf dessen Autorenschaft hinweisen. Die Bibel war jedoch nicht vom Himmel gefallen, sondern ist ein Menschenwerk, an dem über dreißig Generationen nachdenklicher Gottsucher mit sehr unterschiedlichen Überzeugungen beteiligt waren.


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Briefmarke der Deutschen Bundespost von 1957
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