a muftivon Warum wurde 1948 kein arabischer Staat in Palästina gegründet? Teil 2/2

Matthias Küntzel

Hamburg (Weltexpresso) - Der Liga-Beschluss veränderte drittens die Dynamik des Nahostkonflikt. Der Mufti sah in den Vereinten Nationen eine von „imperialistischen Interessen“ dominierte Organisation. Für ihn wie auch für Hassan al-Banna, dem Führer der Muslimbruderschaft, war der Teilungsbeschluss ein „internationales Komplott, ausgeführt von den Amerikanern, den Russen und den Briten unter dem Einfluss des Zionismus.“

Diese Einschätzung war, wie wir oben in Teil 1/2  gesehen haben, absurd. Sie zeigte, wie verbreitet die Behauptung von der jüdischen Weltherrschaft, die die Nazipropaganda den Arabern über Jahre hinweg eingebläut hatte, noch war.

Als das United Nations Special Committee on Palestine 1947 vor Ort Erkundungen einzuholen suchte, erklärte der Mufti, dass jeder Araber, der mit diesem Komitee zu sprechen suche, dafür mit seinem Leben bezahlt. Mit der Einsetzung el-Husseinis war keine Kompromisslösung, sondern nur radikalster Widerstand gegen den Teilungsbeschluss zu erwarten.


Die Muslimbrüder marschieren auf

Der Mufti war allerdings nicht nur bei den Palästinensern, sondern auch bei den Herrschern Arabiens unbeliebt. Sein Extremismus sei „für die Araber mindestens so schädlich, wenn nicht noch schädlicher, als für die Juden”, bemerkte der Generalsekretär der Liga, Azzam. Ägyptens Premier Isma‘il Sidqi bezeichnete ihn als „einen Intriganten, dem auch die Zerstörung der gesamten arabischen Welt nichts ausmacht, solange es ihm persönlich nützt.” Abdullah von Transjordanien machte ihn für das „Elend“ in Palästina verantwortlich, während Ibn Saud erklärte, dass der Mufti sein Land nicht betreten dürfe. Wie also konnte es dazu kommen, dass die Liga ausgerechnet den wütendsten Judenhasser im Lager der Palästinenser zu deren Führer erklärte?
Hier hatte vermutlich der Druck der Straße den Ausschlag gegeben. Für unzählige Araber war der Mufti ein charismatischer Held – hatte er es doch nicht nur geschafft, einem britischen Haftbefehl von 1937 zu entgehen, sondern auch den Auslieferungsersuchen Londons, Belgrads und Washingtons von 1945.

„Die Straflosigkeit seiner Taten hat sein Prestige unter den Arabern gehoben“, schrieb 1947 Simon Wiesenthal. „Ein Mann, ... der der Feind Nr. 1 eines mächtigen Imperiums ist – und dieses Imperium kann sich seiner nicht erwehren – scheint ihnen gerade ein passender ,Führer‘ zu sein.“

Die ägyptischen Muslimbrüder schürten diese Stimmung und bauten darauf auf. Seit der Festsetzung des Mufti im Mai 1945 hatten sie ihn unermüdlich verteidigt, angepriesen und jeden, der sich mit ihm anlegte, bedroht. So warnten sie im April 1946 die USA, dass sie für die Rettung des Mufti auch bereit seien, sich selbst zu opfern. Im Juni 1946, ein gutes Jahr nach Schließung der Vernichtungslager, erklärten sie in Reaktion auf das Gerücht, Zionisten hätten den Mufti zum Tode verurteilt: „Ein Härchen des Mufti ist mehr wert als die Juden auf der gesamten Welt. ... Sollte ein Härchen des Mufti berührt werden, würde jeder Jude in der Welt ohne Gnade getötet werden.“

Derartige Stellungnahmen hatten Gewicht. Die Muslimbrüder hatten schon in den Dreißigerjahren antisemitische Kampagnen initiiert und von deutschen Nazi-Agenten Gelder erhalten. Bei Kriegsende waren sie die mit Abstand größte und kampfstärkste ägyptische Gruppierung. 1945 verfügten sie über 1.500 Zweigstellen und 500.000 Mitglieder. Diese Anzahl soll sich bis 1948 verdoppelt oder gar verdreifacht haben.

Schon die Rückkehr des Mufti nach Ägypten war ein klarer Erfolg ihrer Drohkampagnen; ein Erfolg, den die Muslimbrüder überschwänglich feierten: „Oh Amin! Was für großartiger, sturer, toller und wundervoller Mann du bist. ... Marschiert voran! Gott ist mit euch! Wir stehen hinter dir! Wir sind bereit, unsere Leben für die Sache zu opfern! Auf zum Tod! Vorwärts Marsch!“

Im Juni 1946 unternahm Isma’il Sidqi, der ägyptischen Regierungschef, einen letzten Versuch, den Pro-Mufti-Kräften entgegenzutreten. Er kritisierte, dass der ägyptische König Faruk dem Mufti Asyl gewährt hatte, ohne die Regierung zu fragen, und wies auf „politische Irrtümer“ des Mufti während dessen Zusammenarbeit mit den Nazis hin. Die Muslimbrüder reagierten mit einer wütenden Serie von Stellungnahmen und erklärten, dass al-Husseini nicht nur keinen einzigen Fehler begangen, sondern auch in Deutschland den Jihad, so wie es nötig sei, geführt habe. „Dieser Held“, schrieben sie 1946, „bekämpfte den Zionismus mit der Hilfe von Hitler und Deutschland. Hitler und Deutschland sind gegangen, doch Amin el-Husseini wird den Kampf fortsetzen.“

Diese Pro-Mufti-Kampagnen und das Unruhepotential, das die Bruderschaft repräsentierte, dürften entscheidend dazu beigetragen haben, dass die Liga den Mufti unter der Federführung Ägyptens zum Führer der Palästinenser erhob.


Orientierung auf Krieg

Es waren ebenfalls die Muslimbrüder, die Ägypten maßgeblich dazu brachten, in das neugegründete Israel mit regulären Truppen einzumarschieren. Einerseits bauten sie starke Verbände in Palästina auf und verfügten dort Ende 1947 über 25 Zweigstellen und 20.000 Mitglieder. Andrerseits setzen sie die Arabische Liga unter Druck und boten ihr zum Beispiel 10.000 Kämpfer für Palästina an.

Im Dezember 1947 brachten die Muslimbrüder in Kairo anlässlich einer Konferenz der Arabischen Liga 100.000 Menschen auf die Straße. Auf der Terasse des Savoy-Hotels, wo die Liga tagte, „standen mit würdigen, ernsten Gesichtern die Ministerpräsidenten der arabischen Staaten ..., und nahmen, Hand am Fez, den Vorbeimarsch der Gläubigen ab“, berichtete 1947 der „Spiegel“.

Und tatsächlich erklärte sich die Liga unter dem Eindruck dieser Demonstration bereit, Freiwillige für Djiahd-Einsätze in Palästina auszubilden. Damit hatte das eher zögerliche Ägypten erstmals Verantwortung für Kämpfe in Palästina übernommen. Auf diese Weise “sorgte die Bruderschaft für eine Atmosphäre, in der Krieg als der einzig logische und natürliche Fortgang erschien”, schreibt der Nahosthistoriker Thomas Mayer. „Das Versagen der Regierung, dieses Propaganda zu unterdrücken, förderte die militärische Intervention. ... Die Bruderschaft zog Ägypten mit Erfolg in den Palästina-Krieg hinein.”

Die amerikanische Gesandtschaft in Damaskus bestätigte diesen Befund. Sie machte, ohne die Bruderschaft zu nennen, „die Kombination aus Regierungsrhetorik und Druck von unten“ für den ägyptischen Einmarsch verantwortlich.

Dieser Krieg fand aber auch deshalb statt, weil die antisemitische Nazipropaganda in arabischer Sprache das politische Klima auch noch in den Nachkriegsjahren prägte und weil in diesem Klima niemand der Politik des Mufti und der Muslimbruderschaft eine Grenze zu setzen in der Lage war. Unter diesem Umständen gelang es dem antisemitischen Flügel der arabischen Welt, die Initiative zu ergreifen und die Agenda zu bestimmen.

Erst nachdem der erste Nahostkrieg mit einer arabischen Niederlage geendet hatte, setzte der jordanische König Abdullah im Dezember 1948 Amin el-Husseini als Mufti ab. Etwa zur selben Zeit ließ die ägyptische Regierung die Einheiten der Muslimbrüder in Palästina auflösen und die ägyptische Muslimbruderschaft verbieten. Hätten sich die ägyptischen Autoritäten drei Jahre eher hierzu durchgerungen, wäre die Geschichte des Nahen Ostens anders verlaufen.

Erlauben wir uns dieses Gedankenexperiment: Hätte Ägypten die Muslimbrüder bereits Ende 1945 verboten, wären deren Kampagnen zugunsten des Mufti entfallen; dann hätte niemand die ägyptische Regierung unter Druck gesetzt, den Mufti als Palästinenserführer zu installieren; dann hätten es nach dem Teilungsbeschluss der Vereinten Nationen weder der Mufti noch die Muslimbrüder geschafft, die Kriegsstimmung mithilfe antijüdischer Attacken in Palästina (und den entsprechenden Gegenreaktionen) anzuheizen; dann wäre Ägypten bei seiner ursprünglich verbrieften Kriegsablehnung geblieben; dann hätte es weder die Flucht noch die Vertreibung der Palästinenser gegeben; dann würde man im Jahr 2018 den siebzigsten Jahrestag der Gründung eines arabisch-palästinensischen Staates feiern können.

Doch so kam es nicht. Die Akteure entschieden sich für einen anderen Weg. Dies zeigt: Es gab 1947/48 keinen Automatismus, der den Krieg und damit die Flucht und Vertreibung palästinensischer Araber unvermeidlich machte. Es waren die arabischen Führer, die diesen Weg der Zerstörung wählten – und zwar aus eigenen Stücken. Keine “imperialistische” oder “zionistische” Macht hatte sie hierzu gedrängt.

Um die Chancen eines arabisch-palästinensischen Staates stand es Ende 1947 besser, als jemals zuvor und jemals danach. Leider wurde diese Chance nicht genutzt. Leider hatte die Zerstörung des ganz jungen Israel Vorrang.


Foto: 
Amin el-Husseini,: The Mufti of Jerusalem (1921-1937)
©United States Holocaust Memorial Museum

Info:
Dieser Artikel wurde erstmals in mena-watch, am 8. Mai 2018 veröffentlicht. Wir entnehmen in mit Erlaubnis des Autors seiner Webseite.

Dieser Artikel basiert auf einer längeren Untersuchung, die die Zeitschrift “Jewish Political Studies Review” 2016 unter dem Titel “The Aftershock of the Nazi War against the Jews, 1947-1948: Could War in the Middle East Have Been Prevented?” veröffentlichte. Alle Quellennachweise befinden sich in der englischsprachigen Version, die auf des Autors Homepage: http://www.matthiaskuentzel.de/contents/the-aftershock-of-the-nazi-war-against-the-jews-19471948 ) nachgelesen werden kann.