Bildschirmfoto 2018 06 02 um 08.54.04Wladimir Putin möchte den Eindruck vermeiden, dass die Machtposition Moskaus im Nahen Osten abbröckelt

Jacques Ungar

Tel Aviv (Weltexpresso) - Es mehren sich die Anzeichen dafür, dass die russischen Truppen in Syrien von Moskau Rückzugsbefehle erhalten haben – daher will Israel keine militärische Konfrontation mit Russland riskieren.

Zwei Haupteigenschaften zeichnen den zotteligen Braunbären aus. Er lässt sich in der Regel nicht zu überstürzten Entscheidungen hinreissen. Und von einem einmal gefassten Beschluss ist er nur mit grösster Mühe abzubringen.

Sprechen wir im politischen Diskurs vom Bären, fällt sogleich der russische Bär mit seiner Kapitale Moskau auf. Für den Norden Israels gilt das ganz besonders seit dem stetig wachsenden Einfluss Russlands auf dem syrischen Bürgerkriegsschauplatz.

Ohne dass die russischen Truppen in Syrien von Moskau bereits ernsthafte Rückzugsbefehle erhalten hätten, mehren sich in den letzten Wochen doch die Anzeichen dafür, dass Präsident Wladimir Putins Soldaten sich vermehrt mit einem solchen Schritt befassen. Aber wie es in Moskau nun mal üblich ist, will ein solcher Schritt im Kreml gut und sorgfältig überlegt sein. Denn die Russen wollen vor allem eine Situation vermeiden, die auch nur den Anschein einer abbröckelnden Machtposition Moskaus im Nahen Osten plausibel erscheinen liesse.


Angst vor Konfrontation

In dieser Gleichung mit etlichen Unbekannten spielt Israel eine nicht zu unterschätzende Rolle. Dabei unterscheidet Jerusalem sich insofern von den anderen Akteuren, als es in Bezug auf seine Wünsche und rote Linien kein Blatt vor den Mund nimmt. In erster Linie will Israel natürlich keinerlei militärische Konfrontation mit Russland riskieren, das in Jerusalem als ein zwar zurückhaltender, aber doch wertvoller Kollege – Alliierter wäre vielleicht bereits übertrieben – auf der Szene gilt, mit dem man in entscheidenden Momenten reden und meistens auf ein mitunter kritisches Verständnis rechnen kann.

Nachdem Premier Binyamin Netanyahu in den letzten Monaten, abgesehen von diversen Telefongesprächen mit dem Kreml, einige Spritztouren in den Kreml unternommen hatte, war diese Woche die Reihe an Verteidigungsminister Avigdor Lieberman und Generalmajor Tamir Hyman, dem militärischen Abwehrchef. Am Mittwoch wollte man im Rahmen einer Blitzvisite Sergei Shoigu, dem russischen Amtskollegen Liebermans, und weiterer Prominenz des dortigen Verteidigungsestablishments die Aufwartung machen.


Liebermans Mission

Erhöht wurde die Wichtigkeit von Liebermans Mission sicherlich durch eine am Montag vom russischen Aussenminister Sergei Lavrov gemachte Äusserung. Demnach sollten syrische Regierungstruppen die einzige militärische Präsenz an der südlichen Grenze des Landes mit Jordanien und Israel darstellen. Der Rückzug aller nicht syrischen Kräfte müsse laut Lavrov auf einer gegenseitigen Basis stattfinden und dürfe nicht einseitig erfolgen. Russlands Aussenminister erwähnte zwar die Iraner nicht explizit, doch braucht es keine grosse Fantasie, um sich auszumalen, wen er mit seinen Äusserungen gemeint haben könnte.

Mit diesen Worten, sollten sie zutreffen und sinngemäss in die Tat umgesetzt werden, hätte der Chef der Moskauer Aussenpolitik genau das verlauten lassen, was die Israeli hören wollten. Erst dieser Tage bekräftigten zuerst Premierminister Netanyahu und dann sein Verteidigungsminister Lieberman die kompromisslose Abneigung Jerusalems gegenüber einer weiteren militärischen Präsenz iranischer Truppen oder Be­rater im syrisch-israelischen Grenzgebiet. Der konzertierte verbale Effort der israelischen Führungsspitze war wahrscheinlich nichts anderes als eine psychologische Vorbereitung der Moskauer­ Unterredungen vom Mittwoch. Als erschwerendes Element aus Moskauer Sicht fügte Netanyahu die Ablehnung seiner Regierung­ von Teillösungen in dieser Frage hinzu.

Die iranischen Soldaten dürfen im militärischen Kalkül auf dem Golan laut israelischer Aus­legeart schlicht keine Rolle spielen. Vor seiner­ Abreise meinte Verteidigungsminister Lieberman,­ der von Netanyahu und ihm selber vertretene Standpunkt reflektiere nicht nur die israelische Position, sondern darüber hinaus. «Ich kann mit Sicherheit sagen, dass sie die Positionen anderer im Nahen Osten und über den Nahen Osten hinaus wiedergeben.» Das dürften kaum verschleierte Hinweise auf Russland, die USA, Jordanien­ und andere Staaten sein. Dass die IDF, vor allem die Luftwaffe, im Notfall durchaus imstande und motiviert sind, Teherans Offizieren die Stirne zu bieten, haben sie erst vor wenigen Wochen eindrücklich bewiesen, und sie würden­ es wahrscheinlich ein weiteres Mal beweisen, sollte dies erforderlich sein.


Israelische Unterhändler

Die Grenze dürften hier wohl weniger die militärischen Kapazitäten der israelischen Truppenverbände darstellen, sondern die psychologisch-strategischen Grenzen, die Moskau gegenüber der israelischen Handlungsfreiheit auf dem syrischen Kriegsschauplatz zu ziehen entschlossen war. Bis jetzt zumindest, doch Lavrovs Worte sind in Jerusalem sicher auf weit offene Ohren und eine positive Grundhaltung gestossen.

Letzten Endes dürfte wohl das taktische Feingefühl israelischer Unterhändler für die künftige Entwicklung und Qualität des bilateralen Verhältnisses zwischen Moskau und Jerusalem ausschlaggebend sein. Dabei hat Netanyahu bei Putin vorerst sicher noch einen gewichtigen Stein im Brett. Im Falle Liebermans wiederum dürfte sich günstig für das Klima der beiden ungleichen Partner der Umstand auswirken, dass Muttersprache und Denkweise des israelischen Verteidigungsministers russisch sind. Das schafft gewiss Harmonien jenseits des offiziellen Protokolls, doch dürfen die Israeli diesen Vorteil nicht überstrapazieren. Moskau hat ganz bestimmt in seinem strategischen Notizbuch Prioritäten und Präferenzen, die nichts mit israelischen Wünschen und Forderungen zu tun haben, auch wenn sie zu diesen nicht unbedingt in diametralem Widerspruch stehen müssen.

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Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 1. Juni 2018