Bildschirmfoto 2018 06 11 um 07.38.28Nachdem die inoffizielle Waffenruhe im Gazastreifen schon wieder gebrochen wurde, sorgen nun Feuerdrachen in Israel für Sorge

Jacques Ungar

Tel Aviv (Weltexpresso) - Wer den immer schärferen Ton und Inhalt der jüngsten Verlautbarungen israelischer, palästinensischer und generell arabischer muslimischer Sprecher wahrnimmt, dem fällt schwer zu glauben, dass erst vor etwas mehr als einer Woche die Kontrahenten am Gazastreifen sich (indirekt) auf eine inoffizielle Waffenruhe einigten.

Nicht zum ersten, und wahrscheinlich auch nicht zum letzten Mal, bekamen die Bewohner der Ortschaften im Süden Israels recht, als sie spekulierten, dass auch dieser Waffenstillstand das Papier nicht wert sei, auf dem es gar nicht erst geschrieben worden war. Dass aber bereits nach weniger als 24 Stunden palästinensischer Beschuss und israelische Vergeltungsmassnahmen wieder aufgenommen wurde, überraschte auch die Pessimisten.

Den gegnerischen Verbalinjurien die Krone aufgesetzt hat in Teheran Ali Khamenei, die oberste religiöse Instanz seines Landes. Nicht zum ersten Male bezeichnete er diese Woche Israel als ein «Krebsgeschwür», das beseitigt werden müsse. Und wie immer nimmt Jerusalem Drohungen dieser Art auch dieses Mal nicht auf die leichte Schulter. Verständlich, wenn man sich des Ausmasses des Einflusses und der Unterstützung Irans für die Terroristen im Gazastreifen bewusst ist. Diese Argumente gehörten zu den zentralen Themenkreisen des israelischen Regierungschefs Binyamin Netanyahu bei seinen dieswöchigen Visiten in Berlin, Paris und London. Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass Teheran seine Absicht, die Urananreicherung zu beschleunigen, just zu dem Augenblick bekanntgab, als Netanyahu und Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin genau diese Frage diskutierten. Einer der Kernsätze der deutschen Spitzenpolitikerin lief dabei darauf hinaus, dass Irans Truppen Syrien verlassen müssten, dass aber der Nukleardeal zwischen Teheran und Westmächten in Ordnung sei. Netanyahu dürfte nur partiell zufrieden gewesen sein mit dieser Botschaft.


Düstere Statistik

Dieses Mal beziehen sich die israelischen Warnungen nicht nur auf den palästinensischen Einsatz von Raketen, sondern in nicht geringerer Schärfe auch auf die palästinensischen Feuerdrachen, die, wenn an Heliumbehältern hängend, geeignet sind, der israelischen Landschaft und Vegetation verheerende Schäden zuzufügen. Eine recht düstere Statistik müssen dabei die Israeli zur Kenntnis nehmen, was die bisherigen Attacken der Gaza-Palästinenser mit brennenden Drachen auf Orte im Süden Israels betrifft: Bisher versuchten Hamas- und Jihad-Terroristen, über 600 derartige Attacken zu verüben. 400 von ihnen konnten mit technologischen Mitteln vereitelt werden, doch die restlichen verursachten trotzdem noch fast 200 Feuer, die weite Landstriche und Pflanzungen verwüsteten. Alleine am Dienstag sind mindestens zehn neue Brandherde hinzugekommen.

An einer Fraktionssitzung seiner Partei Israel Beteinu kündigte Verteidigungsminister Avigdor Lieberman Vergeltung für die Brandangriffe an. «Wir sind nicht gewillt, Drachenangriffe zu akzeptieren, Unruhen am Zaun, oder Versuche, die Grenze zu passieren und Land zu schädigen, das unter israelischer Souveränität steht», sagte der Minister. «Wir werden gemäss Israels Interessen handeln zu einem für uns genehmen Zeitpunkt. Wir werden keine Rechnungen offenlassen, sondern mit der Hamas, dem Islamischen Jihad und dem Rest der vom Gazastreifen aus gegen uns operierenden Terroristen abrechnen.» Finanzminister Moshe Kahlon von der Partei Kulanu bezifferte den bis Wochenbeginn verursachten bisherigen Schaden der Drachenattacken auf fünf Millionen Schekel (rund 1,2 Millionen Franken). Die betroffenen Farmer würden, so versicherte Kahlon, für die Hälfte ihrer Verluste unverzüglich entschädigt werden. Als wisse die rechte Hand nicht, was die linke tut, kündigte Jerusalem an, sich Massnahmen zu überlegen, um den «humanitären Zusammenbruch» des Gazastreifens zu vermeiden.


Bodentruppen in Gaza?

Der Likud-Abgeordnete Avi Dichter, ehemaliger Chef des israelischen Inland-Geheimdienstes Shabak, meldete sich zu einem anderen Aspekt der gleichen Thematik zu Wort. Mit Blick auf die schwelende Gaza-Krise sprach er das laut aus , was viele Landsleute bei sich im stillen Kämmerlein schon lange denken. In einem Interview mit dem Armeeradio schloss der heutige Likud-Abgeordnete die Möglichkeit nicht aus, dass Israel Truppen in den von der Hamas kontrollierten Gazastreifen entsenden müsse, um dem Raketenfeuer palästinensischer Terroristen gegen Israel ein Ende zu bereiten. «Wir können nicht zulassen, dass Terroristen unsere Schritte für uns bestimmen», sagte Dichter. Die Hamas müsse sich der Möglichkeit von IDF-Bodenoperationen in Gaza bewusst sein, wolle Israel nicht eine Schädigung seiner Abschreckungskraft in Kauf nehmen. «Ich kenne keine Art von Terrorismus», betonte der Parlamentarier, «gegen den eine wirkungsvolle Abschreckung durch Luftangriffe alleine erzielt worden ist.» Dichter sprach im Vorfeld der erwarteten grossen Demonstrationen in Gaza am kommenden Freitag aus Anlass des 5. Juni, dem Jahrestag der Niederlage der arabischen Armeen durch Israel im Sechstagekrieg.

Zusätzlich zu den politisch motivierten Äusserungen nahmen in Israel schliesslich auch militärische Offizielle Stellung zum Drachenproblem – allerdings nur im Schutze der Anonymität. IDF-Persönlichkeiten sind demnach nicht der Meinung, das Aus­senden von Feuerdrachen aus dem Gazastreifen Richtung Israel verhindern zu können. Eine wirksame militärische Vergeltung sei daher nach Ansicht dieser Quellen die optimale Lösung aus israelische Sicht. Vielleicht hat Israel bereits die Vorbereitung einer solchen Variante ins Auge gefasst, als es damit angefangen hat, US-Kommandanten über die Sachverhalte zu informieren und mit ihnen die Gaza-Grenze, Schauplatz der gewalttätigen Demonstrationen der letzten Wochen, sowie den durch die Drachen verursachten Schaden zu besichtigen. In der Regel lassen die Palästinenser ihre Drachen gegen Mittag fliegen, wenn der Westwind am stärksten ist. Zweck ist es, wie «Haaretz» schreibt, die Drachen über eine möglichst grosse Distanz in Israel fliegen zu lassen.

Foto:
Der bisher verursachte Schaden der Attacken durch Feuerdrachen liegt bei rund 1,2 Millionen Franken © tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 8. Juni 2018