p nsu0Die NSU-Morde und ihre Vorgeschichte Teil 1/2

Conrad Taler/ Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) - Am Mittwoch soll nach fünf Jahren NSU-Prozeß in München das Urteil über die Angeklagten gesprochen werden, unter denen Beate Zschäpe, die mit den beiden, heute toten mutmaßlichen Mördern zusammenlebte,  als Mittäterin angeklagt ist an den Taten der rechtsextremen Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU): darunter neun Morde an Migranten, ein Polizistenmord, zwei Sprengstoffanschlägen und 15 Raubüberfällen. Unser Autor hatte vor fünf Jahren die Vorgeschichte in einem Vortrag dargelegt und später veröffentlicht.

»Ich sehe Schatten aufsteigen, wohin ich mich wende. Ich sehe sie, wenn ich abends durch die gellenden Straßen von Berlin gehe; wenn ich die Indolenz
unseres wahnsinnig gewordenen Reichtums erblicke; wenn ich die Nichtigkeit kraftstrotzender Worte vernehme.« Mehr als neunzig Jahre ist es her, seit der deutschen Außenminister Walther Rathenau diese Sätze zu Papier brachte. Wenige Tage später, am 24. Juni 1922, wurde er in Berlin auf offener Straße erschossen. Die rechtsradikalen Mörder machten wahr, was Antisemiten in einem Schmählied verlangt hatten: »Knallt ab den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau.«

Seither ist viel geschehen, Weltreiche sind untergegangen, und neue sind entstanden, aber mit den rechtsextremistischen Verbrechen in Deutschland
hat es kein Ende. Ungestört konnte eine rechtsextremistische Gruppe, die sich Nationalsozialistischer Untergrund nannte, zwischen 2000 und 2006
zehn Menschen ermorden, ehe der Skandal 2011 aufflog. Zwei Jahre danach rätselten Öffentlichkeit und Sicherheitsbehörden immer noch, weshalb der
Verfassungsschutz nicht den geringsten Hinweis auf das Treiben der Mörderbande gegeben hat. Dabei hätten bei ihm sämtliche Alarmglocken läuten
müssen; schließlich wurden immer wieder Menschen türkischer oder griechischer Herkunft nach dem gleichen Muster regelrecht hingerichtet. War
da niemand, der sich daran erinnerte, dass schon einmal Menschen getötet wurden, nur weil sie Polen waren, Juden, Russen oder Serben?

Man durfte gespannt sein, was der Verfassungsschutz im offiziellen Bericht für das Jahr 2011 zu seiner Rechtfertigung sagen würde. Aber auf den 500
Seiten findet sich dazu keine Zeile. Kein Wort darüber, weshalb niemand auf den Gedanken kam, die Morde könnten einen fremdenfeindlichen rechtsextremistischen Hintergrund haben. Schmallippig spricht Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) im Vorwort von einem »schmerzlichen
Misserfolg« und »möglichen Fehlern«, dabei war von Anbeginn klar, dass unbegreifliche Fehler gemacht worden sind. Die Mitglieder der Terrorzelle
konnten ungestört abtauchen und erhielten, wie die Süddeutsche Zeitung am 15. April 2013 spöttisch bemerkte, alle Zeit, sich im Untergrund einzurichten.

Angesichts der Haltung des Bundesinnenministers verwundert es nicht, dass die unteren Chargen des Verfassungsschutzes nichts unversucht ließen, die
Spuren ihres Versagens bei der Aufdeckung des so genannten »Nationalsozialistischen Untergrunds« zu verwischen, angefangen vom Schreddern wichtiger Akten bis hin zum banalen Gerede von angeblichen Fahndungspannen. Im Untersuchungsausschuss des Bundestages stellten sich die Beteiligten unwissend oder machten kein Hehl aus ihrer Geringschätzung gegenüber den Aufklärungsbemühungen der Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Anscheinend herrscht in den Amtsstuben des Verfassungsschutzes immer noch das Scheuklappendenken früherer Zeiten, das den Rechtsstaat hauptsächlich von links her bedroht sieht. Die mutmaßlichen Täter wurden jedenfalls nicht unter Rechtsextremisten gesucht, sondern im Umfeld der Opfer ja sogar bei den Familien der Betroffenen.

Das Verhalten des Verfassungsschutzes, seine Untätigkeit in diesem einzigartigen Fall, hat politische Ursachen. Über diese Ursachen muss gesprochen
werden und es müssen Konsequenzen gezogen werden, wenn sich das Vorgefallene nicht wiederholen soll. Die Verharmlosung des Rechtsextremismus
hat eine jahrzehntelange Vorgeschichte. Sie beginnt damit, dass Angehörige der Gestapo und der SS als Taufpaten an der Wiege des Verfassungsschutzes
standen. Deren Augenmerk war natürlich nicht auf den Rechtsextremismus gerichtet, dem sie bis vor kurzem selber gedient hatten, sondern auf die Gegner von gestern, auf tatsächliche und vermeintliche Kommunisten, radikale Christen und Pazifisten. Widerstandskämpfer gegen die Nazidiktatur, dem KZ gerade entronnen, sahen sich bald wieder vor dem Richter, und oft war dieser ein alter Nazi. (»Süddeutsche Zeitung«, 14. März 2009).

Wer sich als Antifaschist bekannte, galt als linksextremistisch und damit als Staatsfeind. Als die Zwickauer Terrorzelle ihre Blutspur ungehindert quer durch Deutschland ziehen konnte, hatte der Verfassungsschutz nichts Wichtigeres zu tun, als die Öffentlichkeit davor zu warnen, rechtsextremistische und ausländerfeindlich motivierte Straftaten von einer antifaschistischen Position aus zu bewerten. Nachzulesen im Jahresbericht 2003, Seite 155. Derselbe Irrwitz findet sich in den »Texten zur inneren Sicherheit«, herausgegeben vom Bundesminister des Innern im November 1992 auf Seite 96. Dort heißt es: »Feinde der freiheitlich-demokratischen Grundordnung machen sich die rechtsextremen Erscheinungen zu Nutze, um unter dem Vorwand des Antifaschismus die freiheitlich demokratische Grundordnung zu bekämpfen.« (Seite 78)

Die Neonazis werden sich ausschütten vor Lachen. Der Wahnsinn hat nämlich Methode. Für Anschläge auf jüdische Einrichtungen wurden nicht sie, sondern die deutschen Kommunisten oder östliche Geheimdienste verantwortlich gemacht. Bereits drei Jahre nach Gründung der Bundesrepublik
war die gesellschaftliche Ausgrenzung der kommunistischen Minderheit wieder so weit gediehen, dass die meisten westdeutschen Zeitungen kommentarlos darüber hinweggingen, als bei einer verbotenen Demonstration gegen die Wiederbewaffnung ein Kommunist erschossen wurde. Angesehene Blätter wie »Der Spiegel« und die Hamburger Wochenzeitung »Die Zeit« nahmen von dem Ereignis nicht einmal nachrichtlich Notiz. Bis heute gilt der Student Benno Ohnesorg als das erste Demonstrationsopfer der Nachkriegszeit. Der starb aber erst fünfzehn Jahre später in Berlin. Den Namen von Philipp Müller, der 1952 in Essen von einer Polizeikugel tödlich getroffen wurde, kennt im Westen fast niemand. In Hans-Ulrich Wehlers »Deutscher Gesellschaftsgeschichte « taucht er nicht auf.

Ignatz Bubis, dem Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland, blieb es erspart, 2003 die Rede des CDU-Abgeordneten Martin Hohmann
zum Tag der deutschen Einheit anhören zu müssen, in der er behauptete, man könne die Juden durchaus als Tätervolk bezeichnen, schließlich sei Zar Nikolaus II. von einem bolschewistischen Juden getötet worden. Als Hohmann daraufhin aus der Unionsfraktion des Bundestages ausgeschlossen wurde, stimmten 20 Prozent seiner Fraktionskollegen mit Nein oder enthielten sich der Stimme. Das entsprach exakt dem bei Umfragen immer wieder ermittelten Anteil von Antisemiten an der Gesamtbevölkerung.

Hohmann hatte einen Faden weiter gesponnen, den vor ihm schon andere aufgenommen hatten. Der CSU-Vorsitzenden Franz-Josef Strauß meinte, das deutsche Volk habe angesichts seiner wirtschaftlichen Leistungen ein Anrecht darauf, »von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen«. Helmut Kohl hielt dem Initiator des Auschwitzprozesses, Fritz Bauer, Anfang der 1960er Jahre entgegen, der zeitliche Abstand zum Dritten Reich sei noch viel zu kurz für ein abschließendes Urteil über den Nationalsozialismus.

Triumphierend verkündete im Oktober 1980 der Eigentümer der rechtsgerichteten »Deutschen Nationalzeitung«, Gerhard Frey, soeben sei das 500.
Strafverfahren gegen ihn ohne Ergebnis zu Ende gegangen. Selbst vor dem Bundesverfassungsgericht blieb Frey ungeschoren. Geholfen
hatte ihm ein Rechtsgutachten von Theodor Maunz, dessen Kommentar zum Grundgesetz bis heute Pflichtlektüre eines jeden Jurastudenten ist. Nach dem Tode von Maunz wurde bekannt, dass er insgeheim für das antisemitische Hetzblatt gearbeitet hatte. Der Herausgeber der »Deutschen Nationalzeitung« habe mit Maunz »seinen wunderbaren Wegbegleiter« verloren, hieß es in einem Nachruf der Redaktion. Ein Vierteljahrhundert sei Maunz maßgeblicher Berater von Dr. Frey gewesen. Eineinhalb Jahrzehnte hindurch habe er beinahe allwöchentlich seine – wie es hieß – »hervorragenden politischen Beiträge« ohne Autorenangabe in der »Nationalzeitung« veröffentlicht. Wer garantiert uns, dass es nicht ähnliche Fälle gibt?

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Info: 
Aus einem Vortrag vom 20.6.2013, veröffentlicht in dem Buch „Gegen den Wind“ der gleichnamigen Verfasser