Bildschirmfoto 2018 07 22 um 08.13.45Die Möglichkeit eines Krieges gegen den Gazastreifen ist in den letzten Tagen nach Ansicht des israelischen Militärs gewachsen – und auch im Norden ist die Lage angespannt

Jacques Ungar

Tel Aviv (Weltexpresso) - Immer klarere Anzeichen sprechen dafür, dass der Ausbruch des nächsten Krieges zwischen Israel und den Palästinensern im Gazastreifen unter Anführung der Hamas und des Islamischen Jihads nur eine Frage der Zeit ist. Dabei zeichnet sich stets deutlicher das bekannte Szenario der innerisraelischen Szene ab: Die sachlich argumentierenden IDF-Offiziere gegen die oft von politischen Rechtsextremisten unter Druck gesetzte israelische Regierung.

Gegen Mitte der Berichtswoche zeichnete sich in dieser Beziehung folgende Situation ab: Die israelische Armee übt immer offensichtlicher Druck auf die eigene Regierung aus, um alle Bemühungen zur Ausübung des zivilen Drucks auf den Gazastreifen auszuschöpfen, um so den Entscheid für eine volle militärische Operation hinauszuschieben oder ganz abzuwenden. Das lassen diverse Kommentare vom Mittwoch in israelischen Medien erahnen. Hochrangige IDF-Offiziere sind sich dabei der Tatsache bewusst, dass die Regierung Netan­yahu wegen ihres Unvermögens (oder Unwillens?), die Feuerdrachen und andere Attacken aus dem Gazastreifen entscheidend einzudämmen, unter wachsendem Druck, vor allem der rechtslastigen Koalitionspartner, aber auch der Zivilbevölkerung aus den Grenzorten am Gazastreifen, steht, noch einen Zahn der militärischen Gewalt zuzulegen. Die Chancen beziehungsweise Risiken auf einen regelrechten Krieg sind in den letzten Tagen nach Ansicht der Militärs dabei wesentlich gewachsen. Seit Monaten stellen sich sowohl die Armee als auch der Inland-Geheimdienst Shabak gegen Schritte, welche die Situation für die Bevölkerung des Streifens noch weiter verschlechtern würden, da dies die Kriegs­gefahr wesentlich erhöhen würde.


Eine irreversible Eskalation?

Als Zwischenlösung versuchten die IDF in den letzten Tagen, den Druck auf die Hamas durch eine Eindämmung des Güterflusses in und aus dem Streifen zu erhöhen. So hatte am Dienstag die Zahl der Lastwagen, die durch die Passage Kerem Shalom in den Streifen fuhren, ein Allzeit-Tief erreicht, nur 140 Laster mit Nahrungsmitteln und drei weitere mit Medikamenten für eine Bevölkerung von über zwei Millionen Palästinensern passierten. Wie um Öl ins Feuer zu giessen, meinte Verteidigungsminister Avigdor Lieberman am Dienstag, die IDF seien «wenn nötig» bereit für eine militärische Operation in Gaza, um die Attacken der Hamas einzudämmen. «Die IDF sind bereit zu jeder ihnen zugewiesenen Mission»,­ meinte unheilverkündend der Minister während des Besuchs einer militärischen Übung. «Sollten wir gezwungen werden, eine Kampagne zu lancieren», fuhr Lieberman fort, «wären wir imstande, jeden Feind zu schlagen. Die IDF wissen, was zu tun, wie es zu tun und wann es zu tun wäre. Wir bestimmen die Spiel­regeln und niemand anderer.» Die Zeichen glichen am Mittwoch praktisch zunehmend einer irreversiblen Eskalation. Offensichtlich erfolglos waren die Bemühungen der IDF, der Hamas indirekte Botschaften über die Medien zukommen zu lassen: Bilder von den heute das Zentrum des Landes bis in den Süden hinab «garnierenden» Positionen des Raketenabwehrsystems Iron Dome, Berichte von einem IDF-Divisionsmanöver im Süden und Verlautbarungen hochrangiger Offiziere.


Gefahr von Brandballonen

In einer Beziehung ist die Armeespitze allerdings unverändert unbeugsam: Der Befehl, direkt auf die Terrorzellen zu schiessen, welche die Feuerdrachen lancieren. Befürworter eines solchen Befehls machen geltend, dass diese Zelle bisher noch keinen Verlust an Menschenleben erlitten hat. Besonders lautstark fordern Mitglieder des Sicherheitskabinetts wie Bildungsminister Naftali Bennett deshalb eine Verschärfung des Schießbefehls. So lange aber Generalstabschef Gadi Eisenkot es ablehnt, die genannten Zellen frontal ins Visier zu nehmen, dürfte sich an der Situation wohl kaum viel ändern. Bennett begründete seinen Standpunkt am Mittwoch wie folgt: «Vor wenigen Stunden landete ein Feuerballon im Hof eines Kindergartens in Sdot Negev, in dem sich viele fünfjährige Kinder befanden.»

Verletzt wurde niemand, und dank der Besonnenheit des verantwortlichen Personals wurde auch Panik vermieden, doch Bennett blieb unbeirrbar bei seiner Meinung: «Besser wir ernten die Verurteilung der Welt, weil wir die Verantwortlichen für das Lancieren von Feuerdrachen getötet haben, als, Gott behüte, einen Nachruf zu veröffentlichen auf Kinder, die in einem Kindergarten getroffen worden sind. Wer einen Feuerballon gegen Kinder losschickt, ist ein Terrorist, der ausgeschaltet werden sollte.» Hier stossen schwer unvereinbare Weltanschauungen aufeinander. Sobald der äussere Druck der Situation im Gaza­streifen etwas nachgelassen hat, dürfte diese Divergenz in den Anschauungen voll auf die innerisraelische Diskussion durchschlagen. Den ersten Paukenschlag liess am Mittwoch bereits der «Haaretz»-Kolumnist Amos Harel hören, als er seine Analyse mit dem Titel überschrieb: «Brandballone rechtfertigen keinen Krieg.»


Bedrohliche Situation auch im Norden

So sehr auch die Situation zwischen Israel und der Hamas das Denken und Handeln von Israeli mit Beschlag belegt, sollte nie übersehen werden, dass die Lage im Norden an der syrisch-israelischen Grenze nicht viel weniger bedrohlich ist. Es bedarf keiner sonderlichen Fantasie, um sich auszumalen, welch kata­strophale Auswirkungen eine zeitgleiche Explosion im Süden wie im Norden für ganz Israel haben müsste. Verglichen damit wären die jetzigen Spannungen zwischen IDF und Hamas ein lächerliches Kinderspiel.

Das Geschehen an neuralgischen Punkten in Syrien scheint sich zuzuspitzen. So berichtete der israelische TV-Kommentator und Arabien-Experte Ehud Yaari, dass Israel offenbar den Regierungstruppen von Präsident Bashar al-Assad grünes Licht erteilt hat, in der strategisch wichtigen Gegend von Tel Khadr im Norden Syriens Helikopter einzusetzen, obwohl es sich offiziell um eine Flugverbotszone handelt. Offizielle Bestätigungen für die Meldungen waren aber zunächst weder von Jerusalem und noch von Damaskus erhältlich. Die «Jerusalem Post» wiederum zitierte Kreise aus der Nähe der Rebellen. Demnach hätten Syrer am Sonntag in der Provinz Idlib im Norden (israelische?) Raketen gehört, die ihre Standpunkte überflogen hätten. Kurz darauf waren in der Nähe des Flugplatzes Nayrab bei Aleppo Explosionen zu hören gewesen. Das sei eine «starke Botschaft an Iran», meinte eine mit der Situation vertraute Person. «Iran muss sich völlig aus Syrien zurückziehen und nicht nur von der israelischen Grenze. Unter den 22 Personen, die bei dem angeblich israelischen Luftangriff vom Sonntagabend in den Aussenbezirken von Aleppo getötet wurden, sollen sich laut syrischen Oppositionskreisen auch neun Iraner befunden haben. Es kann zumindest spekulativ davon ausgegangen werden, dass Teheran über die jüngsten Kampfhandlungen in Syrien mit angeblich israelischer Beteiligung und offensichtlich russischer stillschweigender Zustimmung alles andere als erfreut sein dürfte. Die Fragen sind nun: Wie weit kann Israel mit seinen gegen Iran gerichteten Militärprovokationen gehen, bevor die Islamische Republik sich tatenloses Hinnehmen solcher Wespenstiche vom Image her nicht mehr leisten kann?


Syrische Flüchtlinge

Eine menschlich-dramatische Dimension präsentierte sich schließlich diese Woche auf dem Golan. Nur rund 200 Meter von der israelischen Grenze entfernt wurden am Mittwoch Dutzende von Syrern angewiesen, nicht weiterzugehen. Die Syrer versuchten verzweifelt, in israelische Sicherheit zu gelangen, sie sind der Grenze entlang gegangen und hatten teilweise weiße Fahnen mit sich geführt. Sie gaben ihr Vorhaben angesichts der Schreie der IDF-Soldaten, zurückzugehen, aber auf. Ganz offensichtlich gehorchten die Soldaten und Offiziere den Befehlen der Politiker aus Jerusalem. Die potenziellen Flüchtlinge hatten die sogenannte Alpha-Linie der entmilitarisierten Zone auf dem Golan unweit des Hügels Tel al-Haarara passiert, ein strategisch wichtiger Hügel mit einem Überblick über den israelischen Golan, den die syrische Armee nach eigenen Angaben dieser Tage wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben will.

Mit der Hilfe schiitischer Milizen und russischer Bombardements aus der Luft haben die syrischen Regierungstruppen Territorien zurückerobert, die vier Jahre lang von den Rebellen gehalten worden sind. Während der Kämpfe sind Tausende von Syrern auf der Suche nach einer sicheren Zone in Richtung der israelischen Grenze auf dem Golan geflohen. Laut Angaben der Uno haben während der Offensive der Truppen Assads 120 000 Syrer ihre Behausungen verlassen. Laut unbestätigten Berichten haben Israel und die Uno in den letzten Tagen Gespräche geführt über die Errichtung von sicheren Zonen für Syrer entlang der Grenze. Dessen ungeachtet machte Israel klar, dass kein syrischer Flüchtling auf israelisches Territorium gelassen würde. Hingegen werde Israel weiterhin humanitäre Hilfe gewähren. Je länger Assads Offensive auf dem Golan dauert, betont Israel sein unbedingtes Bestehen auf dem Truppenentflechtungsabkommen von 1974 zwischen Jerusalem und Damaskus stärker. Dazu gehört auch das Respektieren der entmilitarisierten Zonen. Damaskus soll dem Vernehmen nach den Ansinnen stattgegeben haben.

Die Aussichten auf eine erneute Zweck-Koalition zwischen Syriens Assad und Israels Netanyahu­ haben angesichts der Erfahrungen der letzten Jahre etwas Kafkaeskes an sich. Wann aber wäre der Nahe Osten denn je kalter Logik gefolgt?

Foto:
Es wird sich zeigen, ob die Brandballone einen neuen Krieg forcieren; hier ist ein Brand in der Nähe des Kibbuz Zikim im Süden Israels zu sehen
© tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 20. Juli 2018