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Kategorie: Zeitgeschehen
p sudetenHitler besetzt das Sudetenland - Ein Zeitzeuge erinnert sich, Teil 1/2

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) - Als Elfjähriger saß ich im September 1938 in meinem böhmischen Heimatort Adamstal zwischen Erwachsenen vor dem Radioapparat eines Nachbarn. Sie hatten sich versammelt, um Hitlers Rede auf dem Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg zu verfolgen. Ich verstand nur wenig von dem Geschrei, das krächzend aus dem Lautsprecher drang, aber an den Gesichtern der Erwachsenen konnte ich ablesen, dass die Lage ernst war. Der Konflikt um die deutsche Minderheit in der Tschechoslowakei beschäftigte ja längst auch die internationale Politik. Besorgt hatte der konservative britische Premierminister Neville Chamberlain im Mai 1937 dem amerikanischen Finanzminister Henry Morgenthau geschrieben:

„Die wilde Propaganda, die von der deutschen Presse und dem Radio fortwährend betrieben wird, und die Intensität und Beständigkeit der deutschen militärischen Vorbereitungen, zusammen mit vielen Tatbeständen des Vertragsbruchs durch die deutsche Regierung, die zynisch damit begründet werden, dass einseitiges Vorgehen der schnellste Weg sei, um zu erreichen, was man wolle, haben alle seine Nachbarn mit einer tiefen Unruhe erfüllt.“

Hitlers Rede in Nürnberg bestätigte die Befürchtungen. Im vertrauten Kreis hatte er bereits vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten geäußert, die Tschechen müssten heraus aus Europa, damit Platz geschaffen werde für deutsche Bauern.

Das Unvermögen der tschechischen Regierung, den drei Millionen Deutschen im Lande über die formale Gleichberechtigung hinaus ein Gefühl des Zuhauseseins zu geben, kam Hitlers Absichten entgegen. Um was es ging, beschrieb der französische Historiker Jacques Benoist-Méchin mit folgenden Worten: „Der Streit der Sudetendeutschen mit der Prager Regierung sollte Hitler als Tarnung dienen für einen viel weiter gehenden Plan, dessen wirkliches Ziel die Zerstörung der Tschechoslowakei war. Die nächste Etappe seiner Eroberungspläne war das Schleifen dieser Festung. Er wollte diesen Riegel aufsprengen, der ihm den Zugang zu den rumänischen Erdölfeldern, zu den Getreidefeldern der Ukraine und – noch mehr – zu den ungeheuren Weiten des Ostens versperrte, die er schon mit hundert Millionen Menschen germanischer Abstammung bevölkert sah.“

Als Hitler daran ging, den Streit auf seine Weise aus der Welt zu schaffen, lagen hunderte von Jahren des Zusammenlebens hinter Deutschen und Tschechen in Böhmen und Mähren. Der tschechische Historiker František Palacký schrieb 1836 den ersten Band seiner „Geschichte Böhmens“ auf Deutsch. Er verlangte, von Karl Marx und Friedrich Engels verspottet, für die kleineren slawischen Völker ein Leben zwischen den Blöcken des Pangermanismus und des Panslawismus. Nach der Niederlage Deutschlands und Österreichs im Ersten Weltkrieg gründeten Tschechen und Slowaken mit Unterstützung der Siegermächte einen eigenen Staat mit drei Millionen Deutschen als Beigabe. Damit wurde ihm ein Problem in die Wiege gelegt, das nicht ohne Folgen bleiben sollte.

Dem Gründungspräsidenten der Tschechoslowakischen Republik Thomas Masaryk schwebte ein Zusammenleben im Geiste des Humanismus vor, aber auf beiden Seiten fehlten dafür die Voraussetzungen. Die Wortführer der einen hatten keine Erfahrung im Umgang mit staatlicher Macht, die anderen wollten nicht akzeptieren von Angehörigen eines für minderwertig gehaltenen „Dienstbotenvolkes“ regiert zu werden. Wie Mehltau legte sich emotionaler Nationalismus über das Land. Die von der Reichsregierung in Berlin unter Führung der NSDAP gesteuerte Sudetendeutsche Partei gab sich zunächst gemäßigt, schraubte ihre Forderungen gegenüber der Regierung in Prag aber immer höher. Nachdem Hitler im März 1938 sein Geburtsland Österreich unter dem Jubel der meisten seiner Bewohner „heimgeholt“ hatte, verlangte er nun die Herausgabe des so genannten Sudetenlandes, also der deutsch besiedelten Randgebiete der Tschechoslowakei. Die Deutschen in diesen Gebieten begrüßten das mehrheitlich heißen Herzens. Begeistert sangen sie „Deutschland, Deutschland über alles“, nachdem ihre Kinder mit der tschechischen Nationalhymne und deren deutschem Text herangewachsen waren:

Wo ist mein Heim, mein Vaterland?
Wo durch Wiesen Bäche brausen,
wo auf Felsen Wälder rauschen,
wo ein Eden uns entzückt,
wenn der Lenz die Fluren schmückt.
Dieses Land, so schön vor allen,
Böhmen ist mein Vaterland.

Die Zweisprachigkeit überdeckte den schwelenden Konflikt nur dürftig. Anders als die deutsch-völkische Propaganda behauptet, hatte er nicht so sehr ethnische, sondern hauptsächlich soziale Ursachen, weitgehend bedingt durch die verbreitete Arbeitslosigkeit im Gefolge der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre. Die Sudetendeutsche Partei unter ihrem Anführer Konrad Henlein machte die tschechische Regierung für die Notlage verantwortlich und brachte damit 1935 bei einer Parlamentswahl 65 Prozent der deutschen Wähler hinter sich. Überrascht vom eigenen Erfolg schickte Henlein eine Ergebenheitsadresse an den tschechischen Staatspräsidenten. Bei der Kommunalwahl im Mai 1938 stimmten die Sudetendeutschen zu 90 Prozent für die Partei Henleins. Als Gauleiter der NSDAP bekannte er später triumphierend: „Um uns vor tschechischer Einmischung zu schützen, waren wir gezwungen zu lügen und unsere Ergebenheit gegenüber dem Nationalsozialismus zu leugnen. Lieber hätten wir uns offen zum Nationalsozialismus bekannt. Es ist jedoch eine Frage, ob wir dann imstande gewesen wären, unsere Aufgabe zu erfüllen – die Tschechoslowakei zu vernichten.“ 

Teil 2 folgt


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Info:
Abdruck aus
Kurt Nelhiebel, Gegen den Wind“, PapyRossa Verlag, Köln 2017