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Kategorie: Zeitgeschehen
Bildschirmfoto 2018 11 11 um 00.29.22Mutmaßungen über Revolution und Konterrevolution

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Der neunte November scheint ein Schicksalstag in der deutschen Geschichte zu sein.

Am 9. November 1918 wurden die deutsche Republik (durch Philipp Scheidemann) sowie fast parallel eine „freie sozialistische Republik“ (durch Karl Liebknecht) ausgerufen. Fünf Jahre später versuchten die Konterrevolutionäre Ludendorff und Hitler in München die noch kleine Flamme der Demokratie mit ihrem Putsch wieder zu ersticken, aber es blieb (zunächst) beim Versuch. In der Pogromnacht vom 9.11.1938 zeigte der 1933 an die Macht gelangte Faschismus endgültig seine Fratze und intonierte die Ouvertüre zu Krieg und Völkermord.

Ganz anders und hoffnungsvoller, wenn auch von Zufälligkeiten bestimmt, verlief der 9. November 1989. Unter dem Druck der Berliner Bevölkerung öffneten die Grenzorgane der DDR die Mauer. Sowohl der Rundfunk der DDR als auch westdeutsche und internationale Nachrichtensendungen hatten ab 19:04 Uhr über eine Pressekonferenz der Regierung berichtet, auf welcher Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros der SED, vor dem Hintergrund einer Fluchtbewegung in die CSSR und nach Ungarn einen freien Reiseverkehr angekündigt hatte. Der sollte jedoch nach dem vorangegangenen Beschluss von Staatsrat, Politbüro und Zentralkomitee erst am folgenden Tag verkündet und rechtskräftig umgesetzt werden. Deswegen waren die Passkontrolleinheit der Staatssicherheit und die Grenztruppen zu diesem Zeitpunkt noch nicht informiert gewesen. Schabowski hatte diese Verfügung in den ihm übergebenen Dokumenten übersehen und war von einem unverzüglich Inkrafttreten ausgegangen.

Als am 9. November 1918 der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann die Republik ausrief, war dies auch fast ein Versehen, das der unübersichtlichen Situation in der Hauptstadt geschuldet war. Der Erste Weltkrieg war militärisch verloren und jene, die ihn für ein legitimes Mittel hielten, um ihre Großmachtträume umzusetzen, sträubten sich dagegen, den Bankrott ihrer eigenen Politik anzumelden. Nicht der Kaiser, nicht Hindenburg, nicht Ludendorff wollten sich in Waffenstillstandsverhandlungen mit den Kriegsgegnern begeben. Das muteten sie vor allem der Opposition, allen voran den Sozialdemokraten, zu. Die wollten zwar den Krieg beenden, aber eine Revolution im Sinne der Französischen oder gar einer marxistischen lag nicht in ihrer Absicht. Dieses Ziel verfolgten lediglich die Unabhängigen Sozialdemokraten und der Spartakusbund, an deren Spitze Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. So geriet die deutsche Revolution vom November 1918 zu einer Verlängerung der gesellschaftlichen Verhältnisse des Kaiserreichs, welche die Mehrheit der Bevölkerung eigentlich beseitigt sehen wollte. Der Kaiser wurde nicht vor Gericht gestellt und durfte ins niederländische Exil gehen, seine Generäle aber blieben und bestimmten bald die Geschicke des 100.000 Mann-Heeres der Weimarer Republik.

Revolution sieht anders aus. Die Chinesen deuten den Begriff Revolution mit einem Ausdruck, der zurückübersetzt heißt „Den Auftrag ändern“. Der Auftrag, den die alten Mächtigen im November 1918 den demokratischen Kräfte stellten, war keineswegs die Änderung einer früheren Order. Im Gegenteil, denn er lautete auf Sicherung der alten Machtstrukturen und der damit verbundenen Privilegien einschließlich der sozialen Verelendung weiter Teile der Bevölkerung als deren Folge.

Ein Jahr zuvor, im November 1917 (nach dem alten russischen Kalender war es der 17. Oktober), vollzog sich in Russland eine Revolution; der Zar, viele Mitglieder seiner Familie und ein großer Teil seiner Vertrauten wurden ermordet; Lenin und Trotzki gründeten die Sowjet-Union, die sich bald schon als das „Vaterland aller Werktätigen“ verstand und zumindest in ihrer Anfangsphase eine große Anziehungskraft auf sozialistische und kommunistische Parteien in Europa und der Welt ausübte. Doch eine deutsche Sozialistin und Kommunistin, Rosa Luxemburg, ging mit den Vätern der „Großen sozialistischen Oktoberrevolution“ hart ins Gericht und warf ihnen den Verrat an den sozialistischen Idealen vor.

Vor allem die Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD), aber auch Teile der SPD, hatten „ihren“ Karl Marx anders verstanden hatten. Ging jener doch davon aus, dass erst die unübersehbaren Widersprüche in der kapitalistischen Produktion die Triebkräfte für eine Revolution hervorbringen könnten. Im Agrar- und Feudalstaat Russland war man davon weit entfernt. Die Mehrheit der Bevölkerung kannte lediglich das tägliche Elend und verspürte den Willen, dieses zu überwinden. Der Sturz des Feudalismus und die Einführung einer Marktwirtschaft wären nach der Marxschen Philosophie das Naheliegende gewesen. Die russischen Sozialdemokraten, die Menschewiki, verfolgten solche Ziele, konnten sich aber nicht durchsetzen, weil große Teile der Bevölkerung ihnen misstraute und ihnen eine zu große Rücksichtnahme gegenüber dem Adel vorwarfen.

In Deutschland zeigten sich immer deutlicher die Auswirkungen einer nicht stattgefundenen Revolution. Am 9. November 1923 versuchten Erich Ludendorff, einst Generalquartiermeister der kaiserlichen Armee, und sein Gefährte Adolf Hitler von München aus einen Marsch nach Berlin, um dort die Regierung zu stürzen. Der Versuch misslang, diesmal jedenfalls noch.

Werfen wir einen Blick über den Atlantik; denn der Erste Weltkrieg hatte nicht nur Europa verändert. Mit dessen Ende gerieten die USA in eine wirtschaftliche Depression. Die Zahl der Arbeitslosen nahm stark zu, die Preise stiegen kontinuierlich. Neben Streiks war eine erhöhte Kriminalitätsrate die Folge der desaströsen Wirtschaftslage.

Zudem erschreckte die erfolgreiche kommunistische Revolution in Russland die politische Führung der USA. Denn auch in den Vereinigten Staaten gewannen linke Kräfte an Bedeutung: Im September 1919 kam es nach Abspaltungen von der Sozialistischen Partei zur Gründung der „Communist Party“ sowie der „Communist Labour Party“. Daneben gab es noch verschiedene Gruppierungen von Anarchisten und anderen Radikalen mit jeweils unterschiedlichen ideologischen Ausrichtungen. Die Regierungspropaganda machte die politische Linke pauschal für die schlechte Lage des Landes verantwortlich und bezeichnete sie undifferenziert als verbrecheri­sche „Bolschewiken“, die alles daran setzen würden, eine kommunistische Revolution in den USA herbeizuführen. Die geschürte „Rote Angst“ („Red Scare“) wurde durch eine Vielzahl von Bombenattentaten genährt, die Anarchisten zugeordnet wurden. So explodierten am 2. Juni 1919 acht Bomben in mehreren Städten des Landes. Dazu fanden sich Flugblätter mit Drohungen von „anarchistischen Kämpfern“ gegen die „Kapitalistenklasse".

Die Angst vor Bolschewiken ging mit der Angst vor Einwanderern einher. Letztere machten laut regierungsoffizieller Propaganda neunzig Prozent aller Radikalen im Land aus. Unter Hinweis auf die angeblich drohende Gefahr wurden dabei geltende Gesetze missachtet oder zum Nachteil der betroffenen Einwanderer geändert. Zudem berichteten Zeugen und Reporter von schweren Übergriffen auf die – meist schuldlos – Verhafteten.

Man erkennt: Auch Donald Trump ist die Folge einer völlig verfehlten US-amerikanischen Sozialpolitik.

Zwei italienische Einwanderer, Ferdinando Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti, gerierten 1927 in den Blickpunkt der Ermittlungsbehörden, weil sie sich der anarchistischen Arbeiterbewegung angeschlossen hatten. Das machte sie verdächtig und sie wurden des Raubüberfalls und des Doppelmords beschuldigt. Für ihre Beteiligung an den Verbrechen gab es keine Beweise. Dennoch wurden sie zum Tode verurteilt und auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet.

Ihre Verurteilung und ihre Hinrichtung lösten einen weltweiten Protest aus. Bis heute zeigen die Ereignisse etwas vom sozialen Bewusstsein in den USA bzw. von dessen Nichtexistenz. Erst ein halbes Jahrhundert später wurden sie rehabilitiert.

Ich komme noch einmal auf die Revolution in Deutschland zurück. 1989 erlebten wir, wie eine Bürgerrechtsbewegung ein wirtschaftlich marodes Staatssystem, das keine weltanschauliche Überzeugungskraft mehr besaß und ständig gegen seine eigenen Prinzipien verstieß, stürzen konnte. Dieser friedlichen Revolution waren jahrelange Widerstände von Einzelnen und kleinen Gruppen vorangegangen. Man denke an den Chemiker Robert Havemann, insbesondere an seine Veröffentlichung „Dialektik ohne Dogma“ von 1964. Oder an den Philosophen und Sozialökologen Rudolf Bahro, der 1979 in seinem Buch „Die Alternative“ neue Perspektiven für eine sozialistische Gesellschaft eröffnete. Auch an die Protestlieder von Wolf Biermann (selbst wenn dieser immer noch den Irak-Krieg für gerechtfertigt hält), die Ost und West bewegten, und nicht zuletzt an die mutigen Christen in der Berliner Gethsemane-Kirche und der Leipziger Nikolaikirche.

Bundespräsident Walter Steinmeier hat bei der diesjährigen Erinnerungsveranstaltung in Berlin einen weltoffenen Patriotismus gefordert und dabei vergessen, den Ludendorff-Hitler-Putsch von 1923 zu erwähnen. Denn nicht zuletzt dieser zeigt, welche Irrwege hierzulande und woanders mit dem Schlagwort des Patriotismus verschleiert werden. Pro Patria – das meinten die Feudalherren, wenn sie Gefahr liefern, ihre Privilegien und Pfründe zu verlieren und statt an Reformen zu denken an das vaterländische Gefühl ihrer Untertanen appellierten. Vergessen wir doch einfach den Patriotismus, der eine Ideologie der Herrschenden ist, und ersetzen ihn durch Humanismus.

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VORWÄRTS vom 09.11.1918

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