Bildschirmfoto 2019 02 09 um 02.50.24Im Vorfeld der vorgezogen Knessetwahlen am 9. April ist der Wahlkampf vor allem von Beschuldigungen und Indiskretionen geprägt – ein Überblick

Jacques Ungar

Tel Aviv (Weltexpresso) - Man kann festhalten, dass das Thema der israelischen Knessetwahlen vom 9. April jedermann langsam auf den Keks geht. Sicher dem Berichterstatter, der nicht umhin kommt, wenigstens zu versuchen, seiner Leserschaft Dinge verständlich zu machen, die ausserhalb Israels kaum jemanden interessieren werden.
Aber auch die Leserinnen und Leser sind letzten Endes doch nur an dem interessiert, was «unter dem Strich» nach dem 9. April übrig bleibt. In anderen Worten: Welche Regierung wird nach der mehrere Wochen dauernden «Nacht der langen Messer», sprich der Dreckschleudereien einer Partei gegen die andere, aber auch zwischen Angehörigen verschiedener Fraktionen der gleichen Parteien, vor der Aufgabe stehen, Volk und Land Israel aus dem übel riechenden Sud der Intrigen, Indiskretionen und gegenseitigen Drohungen herauszuzerren?


Die ersten zehn

Die Primärwahlen des Likud vom Dienstag verdeutlichten den persönlich-emotionalen Charakter der Wahlen. Premier Binyamin Netanyahu gelang es dabei, mit seinem zwei Tage vor diesen Wahlen öffentlich erlassenen Aufruf an seine Partei, ihn zu wählen und nicht den «abtrünnigen» ehemaligen Innenminister Gideon Saar, den Primärwahlen den klar persönlichen Charakter aufzudrücken. Entweder war die in dieser Form sogar für Netanyahu unübliche Form des parteipolitischen Ringens eine wohl überlegte Finte, oder der wegen der gegen ihn laufenden Korruptionsuntersuchungen bereits angeschlagene Regierungschef fürchtete tatsächlich die Kapazitäten Saars, ihn im Rahmen einer «Palastrevolution» aus Amt und Würden zu jagen. Das Schluss­ergebnis der Primärwahlen zeigt folgendes Bild für die ersten zehn: Platz eins war für Premier Netanyahu schon lange gegeben. Dann kommen in dieser Reihenfolge Verkehrsminister Israel Katz, Knessetsprecher Yuli Edelstein und Ex-Bildungsminister Gideon Saar, dessen sehr gutes Abschneiden Netanyahu kaum übertriebene Freude bereiten wird. Die nächsten Ränge belegen die Minister Gilad Erdan, Miri Regev und Yariv Levin. Abgeschlossen wird die Gruppe mit den Likud-Neulingen Nir Barkat (Ex-Bürgermeister von Jerusalem) und Ex-Wohnbauminister Yoav Galant, Ministerin Gila Gamliel und Ex-Geheimdienstchef Avi Dichter.

Bereits zuvor war bekannt geworden, dass die Stimmbeteiligung mit knapp 58 Prozent der total rund 120 000 stimmberechtigten Likud-Mitglieder überdurchschnittlich hoch war. In der Westbank wurde dabei der nationale Durchschnitt mit einer Beteiligung von 69 Prozent klar übertroffen. Das könnte dank der konsequent rechtsnationalen Einstellung dieses Wählersegments Netanyahu in die Hand gespielt haben.

Im Zentrum der für die Wahlen vom 9. April dringendst anzustrebenden Zielsetzungen steht die Erfordernis, Bürger und Bürgerinnen Israels davon zu überzeugen, dass weder das «Bibi-und-Sara-Gate» noch die kleinkarierten Rivalitäten zwischen Netanyahu und Gideon Saar letztlich die Qualitäten ihres Staates bestimmen werden. Ebenso wenig wird es das sein, was die übersättigte, frustrierte und missgünstige Gesellschaft zwischen Jordanfluss und Mittelmeer in der Periode der Vorwahl-Manie sonst noch an «Spielereien» zu produzieren imstande ist. Gefragt sind vielmehr die Fähigkeit und der Wille, sich zurückzu­besinnen an das eiserne Durchhalte­vermögen jener Giganten, die vor fast 100 Jahren das unmöglich Erscheinende möglich machten und aus dem Nichts plus dem Festhalten an Visionen von in der Diaspora darbenden Vorfahren einen Staat hervorzauberten. Mit der theoretischen Rückbesinnung alleine ist es aber nicht getan. Um den Staat Israel und seine Einwohner in eine qualitativ lebenswertere Zukunft hinüber zu retten, bedarf es des praktischen Drangs, die Taten jener Giganten zu kopieren. Mit den notwendigen Änderungen natürlich, denn 2019 ist nun mal nicht 1948. Darüber zu sinnieren, ob das bedauert werden muss oder nicht, ist müssige Schöngeisterei, denn ändern können wir den Gang der Dinge sowieso nicht. Höchstens hier und dort sachte korrigieren.


Neueste Umfragewerte

Nach diesem leicht philosophisch angehauchten Exkurs kehren wir halt doch wieder zum Wahlkampf zurück. Einigermassen verlässliche Auskunft über Stimmung und Wünsche im Volk erteilen vielleicht die in diesen Tagen wie Pilze nach dem Regen aufkeimenden Umfragen. Wir wollen uns hier auf eine Studie des Israelischen Demokratie-Instituts (IDI) und eine in «Haaretz» publizierte Umfrage konzentrieren.

Rund 52 Prozent der israelischen Öffentlichkeit (49,5 Prozent der Juden und 66 Prozent der Araber) glauben, Premierminister Netanyahu sollte demissionieren, falls Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit empfiehlt, ihn unter Anklage zu stellen. Das geht aus der Anfang Woche veröffentlichten IDI-Telefonumfrage hervor. Analysiert man die Daten allerdings nach Parteien, zerfällt der Konsens: Nur zehn Prozent im Likud und 22 Prozent bei der ultrareligiösen Shas-Partei sind der Ansicht, der Regierungschef solle zurücktreten, falls Anklage gegen ihn erhoben wird. Im Gegensatz dazu vertreten 89 Prozent der Wähler der Arbeitspartei, 87 Prozent der Vereinigten (arabischen) Liste, 86,5 Prozent von «Israels Unverwüstlichkeit» (Benny Gantz), 83 Prozent der Zukunftspartei und 78 Prozent der Wähler von Kulanu (Finanzminister Mosche Kahlon) diese Ansicht. Noch vor dem Wochenende hatte Generalstaatsanwalt Mandelblit formell kundgetan, dass er über Ne­tanyahus Rechtsstatus noch vor den Wahlen vom 9. April entscheiden würde. Weitere interessante Ergebnisse der IDI-Umfrage: 52 Prozent der jüdischen Öffentlichkeit betrachten es als wichtig, eine gute Vertretung der Frauen auf der Liste ihrer Parteien zu sichern. Hier sei darauf hingewiesen, dass die 35 Frauen in der jetzigen Knesset bereits eine Rekordzahl darstellen. Schliesslich gelangte die IDI-Umfrage zum Schluss, dass ebenfalls rund 52 Prozent der jüdischen Öffentlichkeit damit einverstanden wären, bei kommenden Wahlen im Ausland lebende Israeli in die Wählerschaft einzuschliessen.


Emotionaler Wahlkampf

Laut der am Dienstag von «Haaretz» veröffentlichten Meinungsumfrage konnte die Partei von Benny Gantz ihre Position halten und würde 22 Mandate erringen, das zweitbeste Resultat nach dem Likud mit 30 Sitzen. Ein Achtungserfolg für einen Mann, der zwar auf eine Karriere als IDF-Generalstabschef zurückblicken, in politischer Hinsicht aber kaum Nennenswertes zu seinen Gunsten in die Waagschale werfen kann. Netanyahus rechtsnationale Koalition scheint laut dieser Umfrage mit 64 von 120 Knessetsitzen also nicht gefährdet, wobei die weiterhin auf vier Sitzen stagnierende Orli Levi-Abekasis noch nicht mit eingerechnet wäre. «Haaretz» warnt aber, dass Netanyahu trotz des mathematisch klaren Umfrageresultats nicht automatisch sorgenfrei in die politische Zukunft blicken kann: Der unbestrittene «Mr. Sicherheit» verliert den Vorteil gegenüber seinem Haupt­rivalen Benny Gantz. Statistisch sind die beiden gleichauf, wenn es um die Meinung der Wähler geht, wer sich besser in Sicherheitsfragen verhalten würde. Dann würden 47 Prozent der Befragten nach den Wahlen Netanyahu lieber nicht als Premier sehen. Das ist das Gegenteil der Botschaft, die Netanyahu­ gerne ans Volk bringen möchte, nämlich, dass es ohne ihn keinen rechten Flügel, keine Regierung, kein Land geben wird. Wenn fast die Hälfte der Befragten nicht für eine fünfte Kadenz von Netanyahu ist, welche Auswirkungen würde dann ein vor den Wahlen vom Generalstaatsanwalt gefällter Entscheid haben, ihn anzuklagen? Hier kommt hinzu, dass 46 Prozent der Befragten nicht mit der Klage des Premiers einiggehen, dass das «Spiel gezinkt» sei und dass der Generalstaatsanwalt dem Druck der Linken und der Medien nachgegeben habe.

Ohne die Korruptionsuntersuchungen gegen Netanyahu wäre der Wahlkampf fairer, aber auch langweiliger. Integrieren wir aber die Untersuchungen und den vor den Wahlen zu erwartenden Moment der Veröffentlichung der Empfehlungen von Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit in die Überlegungen, dürfte die Atmosphäre unmittelbar vor den Wahlen spannungsgeladen und der Urnengang selber höchst emotional sein.


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Alle Augen sind auf Binyamin Netanyahu gerichtet, denn noch ist offen, ob Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit empfiehlt, ihn unter Anklage zu stellen.

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 9. Februar 2019