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Kategorie: Zeitgeschehen
Bildschirmfoto 2019 06 15 um 08.30.55Verschärfung der Situation 

Jacques Ungar

Tel Aviv (Weltexpresso)n - Seit die Gewalt im Gazastreifen in den letzten Monaten wieder zugenommen hat, spielen viele israelische Anwohner aus dem Gaza-Grenzgebiet mit dem Gedanken, die Gegend zu verlassen.

Dass der Gazastreifen kein Paradies ist, wissen Zivilisten wie IDF-Soldaten so gut wie auswendig. Immer wieder werden zudem die israelischen Bewohner der Grenzregion zum Gazastreifen als leuchtende Beispiele für die moralische Widerstandskraft des Landes angeführt. In der Regel passt diese Beurteilungsweise gut, doch gibt es auch Ausnahmen, die zur Vorsicht mahnen und die nach Gegenmassnahmen rufen sollten. So berichtete der israelische TV-Kanal 13 am letzten Wochenende, dass mindestens zehn Familien aus den Grenzgemeinden zum Gazastreifen beschlossen haben, angesichts der immer prekäreren Sicherheitslage und der immer wiederkehrenden Gewalt der Region den Rücken zu kehren. Die betreffenden Familien hatten sich dem Bericht zufolge bereits letztes Jahr beim Regionalrat Shaar Hanegev gemeldet und dort darüber informiert. Sie wollten, wie sie sagen, noch in diesem Sommer wegziehen.

Wie der Bericht weiter mitteilt, handelt es sich um «dramatische Zahlen», wie sie seit dem Gaza-Krieg von 2016 nicht mehr regis­triert wurden. Es sei zu befürchten, dass weitere Familien die Gegend verlassen werden.


Neue Umzugswellen stehen an

In über 50 Gemeinden in der Gaza-Grenz­region wohnen rund 70 000 Israeli. Seit den kriegerischen Auseinandersetzungen von 2016 war in den letzten fünf Jahre ein bemerkenswerter Zuwachs der Population zu verzeichnen gewesen, die sich entlang der Grenze niederliess. Ob es sich hier um ideologisch motivierte Trotzreaktionen handelt oder einfach um den Wunsch der «Umsiedler», vom preislichen Vorteil der geografisch ungünstigen Lage zu profitieren, kann nur gemutmasst werden. Tatsache aber ist, dass das Pendel mit nicht zu bremsender Fortdauer der unsicheren, wenn nicht gar gefährlichen Lage immer deutlicher beginnt, zurückzuschwingen. Daran kann offenbar auch die stetig fortschreitende Erschliessung der betreffenden Gegend durch den Ausbau des Strassen- und Eisenbahnnetzes wenig ändern. Im Falle von Alarmsituationen, das sei nur am Rande erwähnt, werden die Verkehrsachsen sowieso meistens schon sehr frühzeitig stillgelegt, oder zumindest partiell, und sind bis zur Entwarnung, wenn überhaupt, nur noch für die echten Anlieger benutzbar.

Dass im Laufe des letzten Jahres zehn von palästinensischen Terroristen initiierte Runden der gegenseitigen Gewalt registriert werden mussten, verlangte von den Einwohnern immer wieder den Unterbruch der täglichen Routine und den oft stundenlangen Aufenthalt in unmittelbarer Nähe. Dabei ist die Zeitspanne, die von der Auslösung des Alarms für das Aufsuchen eines Unterstands mit oft knapp 15 Sekunden denkbar knapp bemessen. Die von den palästinensischen Feinden oft in Sichtweite aufgestellten Raketen- und Mörserabschussrampen fügen zur physischen Unsicherheit noch ein Gefühl der Machtlosigkeit hinzu. Dieses wird nicht selten noch durch die frustrierende Gewissheit ergänzt, dass Israel aus der vielleicht fragwürdigen Position heraus, sogar im Krieg eine gewisse Fairness dem Gegner gegenüber zu bewahren versucht (die IDF sieht sich als «die moralischste Armee des Nahen Ostens», die nur begrenzt Gleiches mit Gleichem vergelten kann oder glaubt, dies nicht tun zu sollen).


Verfechter unnötiger Appelle

Was auch immer die Beweggründe der israelischen Grenz-Siedler sind, sich in Sichtweite der Hamas-Terroristen niederzulassen oder umgekehrt das Verbleiben an diesen ideologischen Vorposten mit immer grösseren Fragezeichen zu versehen, werden die Historiker vielleicht einmal akademisch untersuchen. Heute wird man sich mit der Erkenntnis begnügen müssen, dass sich die Situation entlang der Gaza-Grenze immer weniger mit der Situation der «Turm und Mauer»-Siedlungen in der Vorstaatsperiode vergleichen lässt, eine Tatsache, die von den Politikern immer wieder, wohl grösstenteils zu Recht, als leuchtendes Beispiel für den unbeugsamen Durchhalte- und Opferwillen hingestellt wird. Dass heute von diesem bewunderswerten Pioniergeist angesichts von fast 700 palästinensischen Geschossen innerhalb einiger Tage immer weniger zu spüren ist, ist nicht verwunderlich. Gewiss dann nicht, wenn die Verfechter solcher Appelle selbst in Villen in relativ «sicher» geltenden Orten wie Tel Aviv, Jerusalem oder Netanya hausen und die Grenzregionen im Süden höchstens von gelegentlichen Propagandabesuchen, speziell im Vorfeld nationaler Wahlen, her kennen.


Die Brandstrategie

Kehren wir aber zurück zu den ernüchternden und mitunter bedrückenden Zahlen von 2019. In den letzten Monaten hat sich das Feuer sukzessive zur eigentlichen «Waffe der Wahl» entwickelt, welcher die Terroristen sich gerne und regelmässig bedienen. So wurden in Israels Süden zwischen Mai 2018 und Mai 2019 vorsätzlich über 2000 Brände gelegt. Über 3520 Hektar verbrannten nach Angaben des Geheimdienst- und Informationszentrums Meir Amit, und zudem nahm der Gebrauch von Feuerballonen zum grenzüberschreitenden Transport von brennbarem Material zu. Offensichtlich handelt es sich hier um eine neue Strategie der Hamas. Zur Behebung der Brandschäden in Irak und in Syrien sind Unsummen nötig. In letzter Zeit hört man immer wieder von der Entwicklung neuer Technologien durch die IDF, um Brandattacken aus dem Gazastreifen besser entgegenwirken zu können.


Richtige, doch schlechte Entscheidung

Yair Golan, der stellvertretende IDF-Generalstabschef hat eine ebenso simple wie beunruhigende Erklärung dafür, dass die IDF bis jetzt davon absehen, in den Gazastreifen einzumarschieren: «Israel hat Angst zu kämpfen und Angst vor Verlusten. Wir geben dem Feind zu viel Kredit. Der Kampf in einer städtischen Umgebung ist ein Kampf auf dem Boden. Die Annahme, wir würden bei einem Einmarsch in den Gazastreifen dort für Jahre feststecken, ist falsch», sagte Golan in einem Interview. Nach seiner Beurteilung der Entflechtung von 2005 aus dem Gazastreifen gefragt, sagte der Vizegeneralstabschef: «Ich dachte nie, dass es so schlecht enden würde, doch es war die richtige Entscheidung.» Die Gaza-Entflechtung bezeichnete er als schlecht, was die Art betrifft, wie Israel sie in die Tat umgesetzt hat. Dessen ungeachtet sieht Golan in der Entflechtung das beste Instrument, um die Ziele zu erreichen, die Israel sich gesetzt hat. Es steht zu befürchten, dass ohne drastische Kehrtwende der Situation im Grenzgebiet zwischen Gaza und Israel der Drang der dortigen israelischen Bevölkerung nach einer Abwanderung zunehmen wird. Ob das kurzfristig die Lage der israelischen Peripherie positiv verändern wird, muss angezweifelt werden. Eine solche Veränderung dürfte erst dann nachhaltig zum Tragen gelangen, wenn die IDF die nötigen Instrumente und Methoden entwickeln können, die für einen durchschlagenden Transfer der Kampfinstrumente und -methoden auf die palästinensische Seite der Grenze nötig sein werden. Dass sich dies aber nicht ohne die Verlegung der Kämpfe in den Gazastreifen selbst realisieren lässt, erinnert uns einmal mehr an die Katze, die sich in den Schwanz beisst – bekanntlich ein Ding der Unmöglichkeit.

Foto:
Ein Langzeitbelichtungsfoto zeigt das Raketenabwehr­system des israelischen «Iron-Dome» in Aktion, als eine Rakete aus Gaza in der Stadt Sderot, wenige Kilometer von der Grenze zu Gaza entfernt,...
© tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 14. Juni  2019