kpm Judisches Museum BerlinÜber die Instrumentalisierung eines Begriffs

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Der Vorwurf des Antisemitismus dürfe nicht durch inflationäres, unredliches politisches Instrumentalisieren entkräftet werden.

Weder durch Boykottaufrufe (wie die der Kampagne BDS - Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen) noch durch Sprechverbote. Deutschland würde seiner friedensschaffenden Rolle im Nahen Osten nur durch politischen Mut zur Differenzierung gerecht werden können. So der israelische Journalist und Konzertmusiker Ofer Waldman am 12. Juni in „Deutschlandfunk Kultur“.

Er reagierte damit auf den Beschluss des Deutschen Bundestags vom 17. Mai 2019 , die Organisation BDS als antisemitisch zu klassifizieren. Diese Entscheidung hatten am 3. Juni 240 jüdische und israelische Wissenschaftler, von denen viele in den Bereichen Antisemitismusforschung, jüdische Geschichte und Geschichte des Holocaust arbeiten, zum Anlass genommen, um auf den alarmierenden und zunehmenden Trend hinzuweisen, die Unterstützer palästinensischer Menschenrechtler als antisemitisch abzustempeln.
Die TAZ druckte diesen Aufruf ab; eine Mitarbeiterin des Jüdischen Museums Berlin empfahl in einem Tweet die Lektüre, worauf der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, das Museum harsch kritisierte. Dessen Leitung habe „das Vertrauen der jüdischen Gemeinschaft“ verspielt. Im Zuge der sich verschärfenden Auseinandersetzung trat der Museumsleiter, der renommierte Judaist Peter Schäfer, der wenig vorher seinen Vertrag um ein Jahr verlängert hatte, zurück.

Es ist zu vermuten, dass sich der Zentralrat einer Initiative der israelischen Regierung angeschlossen hatte. Denn Israels Premierminister Benjamin Netanjahu hatte bereits im Dezember 2018 in einem Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel die finanzielle Unterstützung von palästinensischen Nichtregierungsorganisationen beklagt und in diesem Zusammenhang vor einer Unterstützung von BDS gewarnt.

Diese Vorgänge illustrieren die politische Verlogenheit, jede Kritik an Israel pauschal als Antisemitismus zu diffamieren.

So folgen Bundesregierung, Bundestag und der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung den Merkmalen eines „3-D-Tests für Antisemitismus“, der von dem rechten israelischen Politiker Natan Scharanski (Likud) formuliert wurde. Scharanski stammt aus der Sowjet Union und war neun Jahre in einem sibirischen Straflager inhaftiert.

Das erste D steht für Dämonisierung und meint unzulässige Vergleiche zwischen palästinensischen Flüchtlingslagern und dem Gaza-Streifen mit Auschwitz sowie dem Warschauer Ghetto.
Das zweite D bedeutet doppelte Standards, also die propagandistische Herausstellung vermeintlicher Menschenrechtsverletzungen in Israel, denen gegenüber solche in China, Iran oder Russland heruntergespielt würden.
Das dritte D meint Delegitimierung und versteht darunter die Infragestellung des Existenzrechts Israels bzw. dessen strikte Ablehnung.

Solche Einschätzungen sind durchweg von politischen Interessen geleitet und in den meisten Fällen leicht zu entkräften. Populär sind sie vor allem im arabischen Raum, weil mit ihnen die inneren Probleme der Nachbarländer Israels (autoritäre Strukturen, religiöser Fundamentalismus und massive wirtschaftliche Probleme) verschleiert werden. Sie werden jedoch auch von deren Unterstützern in anderen Ländern aufgegriffen, um jeweils eigene politische Interessen zu verfolgen. Aber auch die nationalistischen und ultraorthodoxen Parteien in Israel bedienen sich dieser Klischees, um Ängste in der Bevölkerung zu schüren und diese in Zustimmung für ihre eigenen politischen Ziele umzumünzen.

Allerdings sind sie nicht zwangsläufig mit Antisemitismus gleichzusetzen. Denn letzterer ist eindeutig rassistisch motiviert und hat seine Ursprünge im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts vor allem in Deutschland und Österreich. Er basiert auf dem jahrhundertelangen christlichen Antijudaismus des so genannten Abendlands. Der Begriff selbst wurde von Wilhelm Marr 1879 geprägt, einem politischen Journalisten, der im Judentum nicht eine religiöse Gruppe sah, sondern eine durch äußere und kulturelle Merkmale bestimmte minderwertige Rasse, die der germanischen nicht gleichwertig sei. Die Vermengung von Juden- und Germanentum würde zur Auslöschung des letzteren führen.

Der rassistische Schriftsteller und Schwiegersohn Richard Wagners, Houston Stewart Chamberlain, der ähnlich wie Marr und dessen Anhänger dachte, versuchte deswegen die arische Abstammung Jesu nachzuweisen. Dieser sei weder Jude noch Palästinenser, sondern römischer Abkunft gewesen – ein sowohl historischer als auch theologischer Irrsinn. Alfred Rosenberg und Adolf Hitler zählten zu Chamberlains bekanntesten Rezipienten.

Natan Scharanskis „3-D-Test“ vermengt antijüdischen Rassismus mit den politischen Interessen nationalistischer Kreise Israels. Eines der ersten Opfer dieser abwegigen und politisch durchschaubaren Kategorisierung war Günter Grass. Der hatte in seinem im Frühjahr 2012 veröffentlichtem Gedicht „Was gesagt werden muss“ vor der Lieferung deutscher U-Boote an Israel gewarnt. Der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger befürchtete, dass diese Schiffe mit Atomraketen bestückt werden könnten, die sich gegen den Iran könnten. Grass wörtlich:

„Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern, / mehr noch, allen Menschen, die in dieser / vom Wahn okkupierten Region / dicht bei dicht verfeindet leben / und letztlich auch uns zu helfen.“

Auch Jakob Augstein, Herausgeber der Wochenzeitung „Freitag“, handelte sich den Vorwurf ein, Antisemit zu sein, weil er Kritik an der israelischen Politik äußerte. Im November 2012 entgegnete Augstein auf derartige Anfeindungen im SPIEGEL, dass der Antisemitismusvorwurf zu oft gebraucht werde, um Israels Besatzungspolitik vor jeder Kritik zu schützen. Damit werde der Begriff bedeutungslos und zur beliebigen Beschimpfung. Das nütze wirklichen Judenfeinden und schade Israel.

Dennoch werden beispielsweise das „Mideast Freedom Forum Berlin“ oder das „Simon Wiesenthal Center“ nicht müde, die 3-D-Methode zu propagieren. Besondere Resonanz findet diese u.a. beim umstrittenen Publizisten Henryk M. Broder und dem übereifrigen, aber nicht wissenschaftlich-seriös arbeitenden Antisemitismusforscher Matthias Küntzel, der Netanjahus und Trumps Anti-Iran-Kurs geradezu sklavisch unterstützt.

Der im August 2018 in Tel Aviv verstorbene Schriftsteller und Friedensaktivist Uri Avnery hielt die in Deutschland tabuisierte Kritik am Staat Israel für antisemitisch, weil das allen Antisemiten der Welt in die Hände spiele.

Avnerys Haltung diametral entgegen steht regelmäßig die Position des Zentralrats der Juden in Deutschland. Dafür ein Beispiel: Als der in Limburg an der Lahn ansässige Finanzmakler Markus Stillger, ein Mitglied der CDU, Anfang Juli 2017 als Reaktion auf die Krawalle am Rand des Hamburger G20-Gipfels „einen kleinen Holocaust“ gegen gewaltbereite Demonstranten forderte (im Klartext: die systematische Ermordung von Menschen nach dem Beispiel des NS-Staats), erntete er regional und überregional dafür viel Protest; einige Bürger stellten Strafanträge, die aber vom zuständigen Oberstaatsanwalt in Limburg nicht angenommen wurden, weil der Aufruf nicht die Merkmale der Volksverhetzung erfülle. Der Zentralrat hüllte sich in Schweigen.

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Jüdisches Museum Berlin
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