a nelhiebel kurt portrait 1982Kurt SchreibtischWas einem am 1. September 2019 so durch den Kopf geht

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) -  Meine Erinnerungen an den Beginn des Zweiten Weltkrieges erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Sie sind geprägt von den Bildern, die sich mir als Heranwachsendem, beeinflusst von der antifaschistischen Haltung  meines Vaters, eingeprägt haben. Und natürlich sind diese Erinnerungen auch überformt durch das sich daran Erinnern.

Meine glückliche Heimkehr aus dem Krieg wurde überschattet von den Ereignissen in meinem Geburtsland, wo die Deutschen heimgezahlt bekamen, was sie den Tschechen angetan hatten. Sie bekamen jetzt dieselben Lebensmittel-Rationen, die sie den Juden zugeteilt hatten. Sie wurden aus ihrer Heimat vertrieben, nachdem sie Millionen Juden aus dem Leben vertrieben hatten. Von den Hungerrationen mussten auch die Familien der Hitlergegner anfänglich leben, auch für sie gab es kein Bleiben in der alten Heimat..

Mein Vater genoss als Antifaschist hohes Ansehen. Wir mussten das Land nicht verlassen, hätten aber unsere Identität aufgeben müssen. Deutsch durfte nur noch in den eigenen vier Wänden gesprochen werden, es gab keine deutschen Schulen, keine deutschen Zeitungen, keine deutschen Bücher mehr. Da wollten sich die allermeisten Hitlergegner doch lieber eine neue Heimat suchen. So landete ich 1946 mit einem so genannten Antifa-Transport im württembergischen Göttingen. Einfach war das alles nicht.

Am 30. Mai 1947 notierte ich in meinem Tagebuch: „Immer wieder überfällt mich unerträgliches Heimweh. Obwohl hier die gleichen Blumen blühen wie daheim, obwohl die gleichen Vögel singen und derselbe Mond am Himmel steht, ist alles so unsagbar fremd.“ Am 22. Juni setzte ich mich in einen Zug und fuhr nach Furth im Walde. Dort wolle ich über die bayerisch-tschechische Grenze in meine Heimat zurückkehren.

Es war einem Sonntag. In der Nähe der Grenze setzte ich mich auf  die Bank einer Kapelle und sah über Berge und Hügel hinein nach Böhmen. Irgendwo in der Ferne lag meine verlorene Heimat. Ich musste weinen und wurde mir der Sinnlosigkeit meines Vorhabens bewusst. Ich kehrte um. Mich mit dem Unabänderlichen abzufinden fiel mir schwer. Meine innere Wut auf diejenigen, denen ich Krieg und Heimatverlust zu verdanken hatte, wuchs, zumal da sie wieder das große Wort führten.

Als die Vertriebenen 1950 auf einer Kundgebung in Bad Cannstatt die „Charta der Heimatvertriebenen“ beschlossen, saß ich quasi nebenan im Stuttgarter Untersuchungsgefängnis und wartete auf den Prozess vor einem amerikanischen Militärgericht. Ich hatte nachts aus Protest gegen den Koreakrieg mit Freunden Plakate mit der Aufschrift  „Korea den Koreaner – Deutschland den Deutschen – Ami go home“ an die Wände geklebt und war dabei erwischt worden.

Meine Karriere bei der „Neuen Württembergischen Zeitung“ in Göppingen hatte ich  mir durch einen Kommentar gegen die von Adenauer heimlich eingefädelte Wiederbewaffnung vermasselt. Für meine Gedichte interessierte sich nur die kommunistische „Volksstimme“ in Stuttgart, die mir ein Volontariat anbot.1965 warb mich der Medienwissenschaftler Harry Pross, damals Chefredakteur bei Radio Bremen, als Redakteur an. Als der Intendant des Senders nach Abschluss der Probezeit meinen Dienstvertrag unterschreiben wollte, tauchte der Bremer Innensenator Heinz Koschnick bei ihm auf und hinterbrachte ihm mein kommunistisches Vorleben. Der Intendant bewies Rückgrat und behielt mich.

Als Kommentator begleitete ich unter dem Namen Conrad Taler die neue Ostpolitik Willy Brandts, darauf hoffend, der Verständigung mit dem Westen würde nun auch die Aussöhnung mit dem Osten folgen. Mit seinen Warnungen vor einer Rückkehr des Naziungeistes hatte Brandt mich, ungeachtet des Radikalenerlasses und der damit verbundenen Kriminalisierung einer ganzen Generation, ebenfalls an seiner Seite. Dass ich mich am Ende meines Lebens noch mit Leuten würde herumschlagen müssen, die eine Abkehr von der „dämlichen Bewältigungspolitik“ fordern und die Nazizeit als „Vogelschiss“ abtun, hätte ich nicht gedacht. Aber nur zusehen, wie sie dicke Backen machen – das geht nicht.

Foto:
© privat