kpm Wahlplakat der LINKEN in BrandenburgÜber das Selbstverständnis der LINKEN

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Eine politische Niederlage im Domizil, dort, wo man sich eigentlich stark fühlt, schmerzt besonders. Und sie wirft grundsätzliche Fragen auf.

Die LINKE muss sich diese Fragen nach dem schlechten Abschneiden in Brandenburg und Sachsen jetzt stellen. Und sie darf es nicht nur bei dem belassen, was längst offenkundig ist und was in Verkennung der einstigen Stärke sträflich hingenommen wurde: Überalterung der Stammwählerschaft, immer weniger Büros (gleich Anlaufstellen) in kleinen Orten, vor allem auf dem Lande, eklatanter Mangel an Personen, die für Parteiämter und als Kandidaten für Kommunal- und Landtagswahlen geeignet sind.

Hinzugekommen ist der Spagat, den sie in der Doppelfunktion als Mitregierungspartei (in Berlin und Thüringen, aktuell noch in Brandenburg) und als Opposition vollziehen muss. Und sie hat die AfD völlig unterschätzt. Diese reaktionären und zutiefst antisozialen Besitzstandswahrer historisch überständiger Interessen machen ihr den Anspruch streitig, Avantgarde des Protests zu sein. Die Gaulands, Weidels, Storchs, Höckes, Meuthens & Co. definieren Protest publikumswirksam als Vernichtungsfeldzug gegen alles, was nicht in ihre Engstirnigkeit, in ihr völkisches Konzept und ihre kapitalistisch-feudale Ständegesellschaft passt. Und ihre vielfach bildungsferne Gefolgschaft applaudiert, jagt Minderheiten, schlägt politische Gegner zusammen und setzt Flüchtlingsunterkünfte in Brand.

Im Vergleich dazu wirkt die inflationär geäußerte Fürbitte für Hartz 4-Bezieher (regelmäßig von Katja Kipping mit Leidenschaft vorgetragen) wie aus der Zeit gefallen. Denn der allgemeine Diskurs um demokratische und soziale Standards ist längst beim Grundsätzlichen angekommen – nur eben nicht bei der LINKEN. Nicht ohne Grund mahnt Dietmar Bartsch an, dass die „Opposition zu den gesellschaftlichen Verhältnissen“ deutlicher werden müsse. Deutlicher, aber auch subtiler und intellektueller. Denn es ist nicht nur eine zunehmende Entfremdung zur traditionellen Arbeitnehmerschaft festzustellen, sondern auch zur kritischen Intelligenz; eine Beziehung, die bislang ohnehin sehr fragil war.

Irgendwie wünsche ich mir die Agitation zurück, die für Sozialisten einmal typisch war. Die Brecht-Verse, die Eisler-Melodien, welche ins Ohr und ins Herz gingen. Oder John Heartfields Grafiken, die Kapitalismus und Faschismus eindrucksvoll entlarvten. Der Schriftsteller Clemens Meyer hat das in der Wochenzeitung »der Freitag« vom 5. September in mitreißender Weise beschworen:

„Ich wünsche mir eine Linke, die mit Pathos und Mut zur Überspitzung sagt: »Wir waren und wir sind die Internationalen Brigaden! Wir verteidigen die Republik, wir reformieren die Republik, wir singen gemeinsam die Internationale .... wir sind die Partei des Demokratischen Sozialismus, und damit sind wir verhandelbar als Partner für jegliches Spektrum, für jegliche Partei, ob sie wollen oder nicht! Doch in der Mitte ist Schluss! Rechts der Mitte wird nicht verhandelt«.“

Während der Lektüre des Artikels fiel mir die Singe-Bewegung der DDR ein. Sie war vom Staat auf die Instrumentalisierung revolutionärer Lieder getrimmt, die vielfach aus dem westlichen Ausland kamen (z.B. „Which side are you on“, dem Vorbild für „Sag mir, wo du stehst“). Aber dennoch nötigte sie auch ihren Kritikern Respekt ab. Wenn der Oktoberklub 1967 sang „Sag mir, wo du stehst und welchen Weg du gehst“, passte das sogar zur sich allmählich herausbildenden 68er Generation in der Bundesrepublik. Und wenn ich mich heute, ein halbes Jahrhundert danach, an den Vers erinnere

„Zurück oder vorwärts, du musst dich entschließen
Wir bringen die Zeit nach vorn' Stück um Stück!
Du kannst nicht bei uns und bei ihnen genießen
Denn wenn du im Kreis gehst, dann bleibst du zurück!“

dann fallen mir die Gesichter von vielen aus dem Vorstand der LINKEN ein, vor allem von denen, die mir als orientierungslos und unentschlossen erscheinen. Und bei dieser und bei jenem bin ich geneigt umzuformulieren: „Sag mir, wo du stehst – sag, mit wem du schläfst“, wie es Bettina Wegner einst aus Protest tat.

Die LINKE, und das will ich damit sagen, hat die Fragen nach ihrer Identität noch nicht geklärt. Ist ihre Kapitalismuskritik lediglich rhetorischer Art oder ein wesentlicher und unaufgebbarer Bestandteil ihrer politischen Forderungen? Kann sie systemkritische Positionen auch dann aufrechterhalten, wenn sie in Koalitionen Pragmatismus und Kompromissfähigkeit unter Beweis stellen muss? Ist sie dazu in der Lage, ein theoretisches Fundament zu schaffen und wirkungsvoll zu proklamieren, um sich als echte und vielleicht einzige Alternative zu empfehlen?

In Brandenburg und Sachsen ist der Vorhang nach den Wahlen wieder zu. Aber nahezu sämtliche Fragen sind offen.

Foto:
Wahlplakat
© Die Linken