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Kategorie: Zeitgeschehen
Bildschirmfoto 2019 09 21 um 10.18.11Direkt im Anschluss an die Wahlen in Israel, die am Dienstag stattgefunden haben, ist noch völlig offen, wer als Sieger aus dem Rennen hervorgeht

Jacques Ungar

Tel Aviv (Weltexpresso) - Das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Binyamin Netanyahu und Benny Gantz gehört datumsmäßig der Vergangenheit an, nicht aber faktisch: Es hat gerade erst begonnen. Netan­yahu warnte, wie nicht anders von ihm zu erwarten war, in seinen ersten Worten nach Bekanntwerden des Wahlresultats vor der iranischen Gefahr, die Israel unvermindert bedrohe. Er scheint also weiterhin auf den Angstfaktor und das Kämpfen mit dem Rücken zur Wand zu setzen, um die eigene Karriere zu retten.

Dies sicher auch mit einem Blick auf seine unweigerlich näherrückenden gerichtlichen Probleme. Noch am Dienstagabend warnte der immer noch amtierende Regierungschef vor dem Eingehen eines Regierungsbündnisses mit einer «gefährlichen, antizionistischen Partei», womit er die Gemeinsame Arabische Liste mit ihren 13 Sitzen meinte.


Bildung einer Koalition?

Am Mittwochmorgen, um vier Uhr, nach der Auszählung von zehn Prozent aller Stimmen, verfügte Blauweiss über 32 Mandate, Likud über 31, die gemeinsame Arabische Liste, wie gesagt, über 13 Stimmen, «Königsmacher» Liebermans Israel Beiteinu und Shas über je neun Mandate. Lieberman meinte, es gebe nur eine Möglichkeit: eine nationale, grosse Regierung mit Israel Beiteinu, Likud und Blauweiss, die nicht jede Woche ums Überleben kämpfen müsse. Er rief Netanyahu und Gantz zu ersten informellen Gesprächen noch vor dem Wochenende auf. Lieberman macht keinen Hehl daraus, dass ihm die Rolle des «nationalen Retters» ausgesprochen behagt. Der jetzige Regierungschef Netanyahu wiederum meinte, eine israelische Regierung werde sich nicht auf eine «gefährliche, antizionistische Partei» abstützen dürfen, die Israels Existenz als demokratisch-jüdischer Staat ablehne. Benny Gantz von Blauweiss wiederum erklärte, das Volk habe sein Wort gesprochen gegen Ex­tremismus und Spaltung. Eine Koalition mit Netanyahu schloss der Blauweiss-Chef nicht explizit aus. Noch während des Wahlkampfs gehörte dieses Versprechen zu den täglich mehrfach geäusserten Slogans des Blauweiss-Chefs. Heute aber will er mit allen reden. Sein Ziel sei eine «grosse Regierung», verkündete er. Der politische Novize scheint rasch gelernt zu haben: Im Ernstfall sind in der Kampagne formulierte Absichten nicht viel mehr als Dunst und Asche. Als solche dürften sie auch von allen Beteiligten behandelt werden, wenn es um die Bildung einer lebensfähigen Koalition geht.


Ein «verblassender Zauber»

Laut den Ergebnissen verfügte der Rechtsblock am Mittwoch nur über 57 Mandate und nicht über die für eine eigenständige Koalition nötigen 61 der total 120 Sitze. Die in den letzten Stunden der Wahlen unter Netanyahus Anleitung von Likud verbreiteten Notstandsappelle ans Volk – der abgegriffene jiddische Slogan «Gevalt» ist offensichtlich zum festen Bestandteil der israelischen Alltagspolitik geworden – haben die Wirkung wahrscheinlich grösstenteils verfehlt. Wir betonen aber nochmals: Mit einem genauen Wahlergebnis musste man bis Mittwoch im Verlaufe des Nachmittags warten. Es konnte sich noch vieles ändern, und die Verlierer von gestern Abend konnten teilweise noch zu den Siegern von heute und morgen werden. Die Bestimmtheit, mit der «Haaretz» schon in der Nacht auf Mittwoch vom «verblassenden Zauber» Netanyahus sprach, mag langfristig zutreffen, entsprach zum jetzigen Moment aber eher Wunschdenken.

Am wenigsten zu beneiden wird in den nächsten Tagen und Wochen Staatspräsident Reuven Rivlin sein, der bald einem israelischen Politiker den Auftrag zur Regierungsbildung erteilen muss. Allzu lange sollte er damit nicht warten: Bis jetzt spricht man in Israel zwar erst hinter vorgehaltener Hand von der Möglichkeit eines Putsches im Likud. Doch wenn die Macht den Rechts­nationalen effektiv einbricht, darf kein noch so unmögliches Szenario ausgeschlossen werden.


Konflikt mit Gaza

Bis es so weit ist, sollte man vielleicht einen Blick auf das grössere Umfeld, in dem die ­Israeli bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr an die Wahlurne gerufen wurden, werfen. Ein solcher Blick kann hoffentlich vieles, was aus der engen israelischen Optik betrachtet einen überwältigenden, beängstigenden Eindruck erweckt, relativieren. Sollten israelische Wahlen wegen eines Kriegs verschoben werden? Mit dieser fast surrealistisch anmutenden Frage befassten sich kurz vor dem 17. September Israels Entscheidungsträger sehr ernsthaft. Ein Konflikt mit Gaza stand vielleicht vor dem Ausbruch, wobei wir hier die Möglichkeit ausklammern wollen, dass Leute um Netan­yahu diese Möglichkeit als letzten Strohhalm für das Unterfangen betrachteten, die schwer angeschlagene politische Karriere des Premier­ministers doch noch zu retten.


Ein möglicher Krieg

Israels Nationaler Sicherheitsberater Meir Ben-Shabbat bereitete Richter Hanan Melcer, den Leiter der zentralen Wahlkommission, während eines Geheimtreffens auf die Möglichkeit vor, wegen einer militärischen Operation die Parlamentswahlen zu ­verschieben. Das spekulierte «Haaretz» am Montagnachmittag. Bereits zuvor hatte die Zeitung berichtet, dass Netanyahu vergangene Woche im letzten Moment Pläne für einen ungewöhnlichen militärischen Schritt mit möglicherweise weitreichenden Folgen sistiert hatte. Das geschah laut «Haaretz» nicht zuletzt wegen der rechtlichen Meinung von Generalstaats­anwalt Avichai Mandelblit, wonach der Plan die Zustimmung des Sicherheitskabinetts erfordert hätte.

Das Drama nahm Dienstagnacht letzter Woche seinen Lauf, als Netan­yahu eine besorgniserregende Erfahrung machen musste, feuerte der Islamische Jihad doch eine Katjuscha-Rakete gerade dann nach Ashdod, als er dort an einer Wahlveranstaltung sprach. Nachdem sich die Lage wieder einigermassen beruhigt und der Premier seine Ansprache beendet hatte, berief er hohe IDF-Offiziere zu dringenden Beratungen ins Armee-Hauptquartier nach Tel Aviv ein. Die Debatten waren offenbar derart schwerwiegend, dass der nationale Sicherheitsberater Ben-Shabbat Richter Hanan Melcer ersuchte, dem Sicherheitstreffen beizuwohnen. Bei dieser Gelegenheit enthüllte der Sicherheitsberater, dass Israel ­möglicherweise eine breit angelegte militärische Operation lanciere, welche sogar die Verschiebung der Wahlen nötig machen würde. Laut Gesetz kann nur die Knesset die Verschiebung von Wahlen mit einer besonderen Mehrheit von 80 (von total 120) Stimmen beschliessen.

Das geschah erst ein Mal während der achten Knesset, als der Jom-Kippur-Krieg eine zweimonatige Wahlverschiebung erforderlich machte. «Haaretz» berichtete, wie gesagt, Netanyahu hätte letzte Woche den Plan für eine bedeutende Vergeltungsmassnahme schliesslich fallen lassen. Die Sache wurde ad acta gelegt. Vorerst wahrscheinlich, denn noch längst sind nicht alle Fragen dazu beantwortet. Eventuell wird man da auf Netanyahus Memoiren warten müssen. Eines ist aber heute schon sicher, Wahlen hin oder her: In Israel und Umgebung sind die Grenzen zwischen Krieg und Nicht-Krieg oft hauchdünn. Letzten Endes bleibt die israelische Demokratie die wirkliche Patientin der Szene. Hier hat eine neue Regierung ihre Hebel unverzüglich anzusetzen, will sie ihren Ruf als verantwortungsbewusste Körperschaft nicht von Anfang an aufs Spiel setzen.



Foto:
Wer in Israel nach der Wahl tatsächlich die Regierung bilden wird, war am Tag nach der Stimmabgabe noch nicht klar.
© tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 20. September 2019