Bildschirmfoto 2019 10 12 um 03.25.13Der Anschlag eines deutschen Neonazis auf die Synagoge von Halle ist nicht nur eine neue Dimension antisemitischer Gewalt – er zeigt wie blind Behörden und Gesellschaft auf dem rechtsextremen Auge waren

Tobias Müller

Halle (Weltexpresso) - Halle ist geschockt. Nicht nur Halle, die Stadt in Sachsen-Anhalt, die seit dem Angriff eines Neonazis auf die Synagoge weltweit bekannt ist, sondern, so heisst es am Tag darauf einhellig in Stellungnahmen und Medienberichten, ganz Deutschland (tachles online berichtete). Keine Fage: Wenn an Jom Kippur eine Synagoge und ein jüdischer Friedhof angegriffen, zwei Menschen erschossen werden und zwei schwer verletzt, hat das zweifellos einen schweren Effekt auf eine demokratische Gesellschaft. Dass der Täter dies 35 Minuten lang im Internet streamte und fünf Personen dabei zuschauten, wird offenbar zum State of the Art solch mörderischer Menschenverachtung, bleibt indes so wenig fassbar wie erträglich.


Der deutsche Neonazi

Doch da ist mehr: Dass Stephan Balliet, ein 27-jähriger deutscher Neonazi, eigentlich sehr viel mehr Todesopfer im Sinn hatte, steht ausser Frage. Nicht zufällig getroffene Personen, sondern Juden. Die, so geht aus dem Video hervor, das mittlerweile nicht mehr im Internet steht, kontrollierten aus Balliets Sicht die deutsche Regierung und müssten dafür bestraft werden. Eine These, so krude und gruselig wie Gemeingut in rechtsextremen, identitären, in nazistischen Kreisen. Und dann macht sich dieser zum Morden bereite «Herrenmensch» ungestört auf Friedhof und an Synagogentür zu schaffen, er schiesst, wirft explosive Granaten. An Jom Kippur.

Von all dem war freilich noch nichts bekannt, als kurz nach Mittag bei der Polizei in Halle ein Notruf einging. In einem Viertel im Norden der Altstadt waren Schüsse gefallen, die Opferzahl zunächst unklar. Dann stellte sich heraus, dass zwei Menschen getötet wurden: eine Frau auf der Humboldstrasse, die an der Synagoge vorbeiführt, und ein Mann in einem Kebab-Imbiss, wenige hundert Meter entfernt. Zwei weitere Opfer wurden mit Schussverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Der beziehungsweise die Täter – man ging bis in den Abend von mehreren aus – waren in einem Auto entkommen, hiess es.


Relativierung durch Sprache

Dass Behörden und Medien sich in einer solchen Sachlage auf Fakten beschränken und Spekulationen zurückweisen, ist ein Kennzeichen von Seriosität und Rechtsstaatlichkeit. In der lange Zeit sehr nebulösen Situation von Halle fiel allerdings auf, dass diese Zurückhaltung seltsame Blüten trieb. In manchen ersten Berichten tauchte die Tatsache, dass sich das Geschehen unmittelbar vor einer Synagoge abspielte, nur am Rande auf – ganz so, als hätte diese sich zufällig auch am Tatort befunden. Und auch als deutlich wurde, dass dem nicht so ist, wurde in mehreren Medien weiterhin von einer «Schiesserei» gesprochen, als ob sich dort zwei Streitende in einer persönlichen Fehde duelliert hätten.

Es ist ein grosser, ein gigantischer Sprung von solch vergleichsweise harmloser Rhetorik bis zu dem, was eine Sprecherin der Bundesanwaltschaft am Nachmittag telefonisch gegenüber tachles erklärte: dass ihre Behörde nämlich die Ermittlungen übernommen habe, weil die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet sei. Bezüglich eines rechtsextremistischen, antisemitischen Hintergrunds wollte sie sich freilich noch nicht näher äussern. «Wir ermitteln auch in diese Richtung. Aber es ist zu früh dazu etwas zu sagen.»

Unterdessen kursierte auf den Websites mehrerer Medien bereits ein Video, in dem ein anonymer Augenzeuge berichtet, ein Täter sei mit Schrotflinte und Maschinengewehr bewaffnet gewesen und «gekleidet wie ein Polizist, in totaler Kampfausrüstung». Er habe auch «mehrere Molotowcocktails oder Granaten über die Friedhofmauer geschossen». Ein Foto zeigte den Täter, bekleidet mit einer Uniform, auf dem Kopf etwas, das an einen Stahlhelm erinnert. In einem anderen Video sieht man, wie er aus einem Auto aussteigt und mit einer Ruhe, die erschaudern lässt, mehrere Schüsse abgibt.


Türe als Rettung

Drinnen in der Synagoge konnten die Gemeindemitglieder all dies hören. Und nicht nur das: Wie Max Privorozki, der Vorsitzende, dem «Spiegel» berichtete, konnte er mit Hilfe der Überwachungskamera verfolgen, wie Stephan Balliet in die Synagoge einzudringen versuchte. «Der Täter schoss mehrfach auf die Tür und warf auch Molotowcocktails, Böller oder Granaten, um einzudringen. Aber die Tür blieb zu, Gott hat uns geschützt. Das Ganze dauerte vielleicht fünf bis zehn Minuten.» Der Vorbeter der Gemeinde berichtet in einem Video, das auf der Website der «Jüdischen Allgemeinen» zu sehen ist, von den «schlimmsten Minuten meines Lebens» und erklärt: «Heute habe ich wirklich erlebt, was es bedeutet, jüdisch zu sein im Jahre 2019.»

Die Gemeindemitglieder, die den zunächst unterbrochenen Gottesdienst fortsetzten, blieben noch «bis ungefähr 15 Uhr in der Synagoge, bis zum Ende von Mussaf», so der Vorsitzende am nächsten Tag zu tachles. Am Abend zuvor hatte er telefonisch berichtet, man sei evakuiert worden und befinde sich nun bei der Polizei. Wie aber steht es mit dem Schutz der Synagoge an einem Tag wie Jom Kippur? Hätte dort nicht auch Polizei anwesend sein müssen, sodass sich der Täter gar nicht erst hätte nähern können? Aus der Antwort Max Privorozkis spricht Ernüchterung: «Hätte sollen. Gab es jedoch nicht. Weder diesmal noch in der Vergangenheit.» Die Polizeisprecherin in Halle will sich am Tag darauf nicht zum Thema äussern.

Man kann in einem solchen Moment an das Wort vom «Revival jüdischen Lebens» denken, das erst vor ein paar Jahren in Deutschland gängig war. Inzwischen lässt sich eher von einem Revival antisemitischer Vorfälle sprechen. Aus einem Bericht des Berliner Innenministeriums vom Mai geht hervor, dass 2018 1800 antisemitische Straftaten im Land begangen wurden – 20 Prozent mehr als 2017. Erst vor wenigen Tagen gelangte ein mit einem Messer bewaffneter Mann auf das Gelände der Neuen Synagoge in Berlin, wo er von den Sicherheitskräften überwältigt werden konnte.

In Halle nun ist es einzig den funktionierenden Sicherheitsmassnahmen der Gemeinde zu verdanken, dass wesentlich mehr Tote verhindert wurden. Ein «Blutbad», wie es in deutschen Medien hiess. Ein Fazit, das mehr als erschreckend ist, gerade wenn man die jüngste Häufung antisemitischer Vorfälle betrachtet. Auch diese Erkenntnis sollte im Fokus stehen, wenn etwa Rainer Haeloff, der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, von einem «feigen Anschlag auf das friedliche Zusammenleben in unserem Land» spricht oder Uno-Generalsekretär António Guterres von einer «weiteren tragischen Demonstration von Antisemitismus».


Kritik vom Zentralrat der Juden

In einer Stellungnahme erklärt Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland: «Die Tat von Halle am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur hat unsere Gemeinschaft auf das Tiefste in Sorge versetzt und verängstigt. Zuallererst sind wir jedoch erschüttert, dass zwei Menschen von dem skrupellosen Täter umgebracht wurden. Unser aufrichtiges Mitgefühl gilt ihren Angehörigen. Ebenso sorgen wir uns um die Verletzten und wünschen ihnen rasche und vollständige Genesung.

Der Täter hat versucht, in die Synagoge einzudringen, und auch der benachbarte jüdische Friedhof wurde angegriffen, so dass von einem antisemitischen Tatmotiv auszugehen ist. Die Brutalität des Angriffs übersteigt alles bisher Dagewesene der vergangenen Jahre und ist für alle Juden in Deutschland ein tiefer Schock. Dass die Synagoge in Halle an einem Feiertag wie Jom Kippur nicht durch die Polizei geschützt war, ist skandalös. Diese Fahrlässigkeit hat sich jetzt bitter gerächt. Wie durch ein Wunder ist nicht noch mehr Unheil geschehen.»

Annegret Kramp-Karrenbauer, die CDU- Vorsitzende, nannte den Anschlag «am höchsten jüdischen Feiertag ein Alarmzeichen, das niemanden in Deutschland unberührt lassen kann». Eine treffende Einschätzung, der freilich drei Anmerkungen anzufügen sind. Erstens: Es ist bei weitem nicht das Erste, sondern das x-te Alarmzeichen, und die Dringlichkeit nimmt drastisch zu. Zweitens: Wieviele solcher Zeichen braucht es noch, bis, an Kramp- Karrenbauer angelehnt, eine Gesellschaft begreift, dass der Schutz eines ihrer Teile essentiell ist und alle betrifft? Drittens: Der Mörder von Halle mag, wie es nun heisst, ein «Einzeltäter» gewesen sein. Was nicht bedeutet, dass er im luftleeren Raum agierte.

Foto:
Diese Tür bewahrte die jüdische Gemeinde und rund 80 Synagogenbesucher von Halle am Mittwoch vor einem geplanten Massaker
© tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 10. Oktober 2019