Bildschirmfoto 2020 01 28 um 01.40.40Pavel Polians „Die Aufzeichnungen des jüdischen Sonderkommandos Auschwitz“

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Der heutige Tag des 75. Gedenken der Befreiung durch Auschwitz, ja genau, durch die Rote Armee, soll nicht zu Ende gehen, ohne noch einmal auf die erschütterndsten Dokumente zu sprechen zu kommen, die Aufzeichnungen des jüdischen Sonderkommandos Auschwitz, deren Publikation dem in Moskau geborenen Pavel Polian zu verdanken sind und deren Veröffentlichung übrigens auch zuerst auf Russisch erschienen ist.

Man kann das Grauen nicht zusammenfassen und auch die Texte nicht hintereinander lesen, sondern das Buch als eines, das einen im Leben begleitet, betrachten. Doch damit die Leser auch wissen, um was es geht, ist die Geschichte der Auffindung der hier veröffentlichten Texte genauso interessant wie die Inhalte, die nach längerer Forschung entziffert sind. Hintergrund sind die infamen Kapo-Methoden der Nazis, wo die SS, die sich unter den jüdischen Häftlingen in Auschwitz, wobei wir hier genauer formulieren müssen: in Auschwitz-Birkenau, die Kräftigsten und Wendigsten auswählte und zu einem Sonderkommando zusammenstellte.

Dieses Sonderkommando war zuständig, das an Arbeiten durchzuführen, was wir landläufig als industriellen Massenmord bezeichnen. Die Ausgewählten konnten ihr Leben erst einmal retten um den Preis, die durch die Lagerleitung zum Tod verurteilen Häftlinge – 80 Prozent wurden gleich von der Rampe aus für die Vergasung eingeteilt und ausgesondert! - , die erst vergast, dann in den Krematorien verbrannt wurden, wobei ungeheure Aschenberge zu bewältigen waren. Wenn man sich dann die Zahlen von rund 1,1 Millionen Menschen, die in Auschwitz ermordet wurden, überlegt, weiß man, in welchem Ausmaß die ‚mörderischen‘ Hilfsarbeiten der Häftlinge für die SS nötig waren. Hier meinen wir mit ‚mörderisch‘ das Vorgehen der Nazi-Lagerleitung und der SS, diese Arbeiten jüdischen Häftlingen zuzumuten, die als selbst potentiell Betroffene in eine Situation gerieten, die zu den schlimmsten Vorstellungen von Menschen gehören, den Mörderbanden helfen zu müssen. HANDLANGER DES TODES nennt Pavel Polian, Autor des 632seitigen Bandes, deshalb die Mitglieder dieses Sonderkommando.

In dieser Situation, wo Überleben das Vorrangige ist, waren diese Handlanger in der Lage, ihre Tätigkeiten zu beschreiben, das Grauen in Worte zu fassen und ihre Dienste festzuhalten. Sie schrieben also das Unsagbare auf, steckten es in Glasflaschen – allein das Wort Glasflasche erzeugt ja ganz andere Assoziationen, denn Flaschenpost läßt an Wasser und Abenteuer denken – und vergruben es in der Erde und in der Asche. Erst sehr spät sind die meisten Dokumente gefunden worden, aber einige schon sehr bald. Der erste Fund geschah gleich im Februar 1945. Andrzej Zaorski, ein 22jähriger Medizinstudent aus Warschau und Mitglied des Freiwilligenkorps des Polnischen Roten Kreuzes in Krakau sollte helfen, ein Feldlazarett für die noch in Auschwitz verbliebenen ehemaligen Häftlinge zu errichten. Bei dieser Tätigkeit fand er in der Asche eine Flasche mit in ihr steckenden Blättern in Form eines Briefes.

Das Irre war dann auch, daß dieser Brief ausgerechnet an das International Rote Kreuz adressiert war und von einem Herman unterschrieben war. In der Flasche lagen auch Blätter in enger Schrift, wo einer auf Französisch seiner Frau klagt, daß er den Mördern helfen müsse, aber wisse, daß er der Nächste sei, weshalb er seiner Frau Anweisungen für ihr Weiterleben gibt, beispielsweise wieder zu heiraten.

Allein die Geschichte dieses Dokuments ist eine Odyssee durch Raum und Zeit., denn das Original war irgendwann verschollen und nur die Kopien einsehbar. Die in diesem Band zusammengeführten Untersuchungen haben über einen Zeitraum von Jahrzehnten tatsächlich die wahre Identität des Schreibers entdecken und dann seinen Weg ab seiner Verhaftung verfolgen können. Bestimmte Häftlinge durften zwei Mal Briefe von Verwandten bekommen, darunter auch nichtpolnische Juden. Und im Nachlaß der Tochter dieses Herman fand man dann das Original, das also seinen Adressanten erreichte, wenngleich man nicht weiß, wie. Wie gesagt, es geht um den im Februar 45 nach der Befreiung aufgefundenen Brief von Herman in der Flasche.

Dies solle nur ein Beispiel dafür sein, was insgesamt in diesem Werk zusammengetragen wurde. Es gab neun Dokumente, die ausgegraben wurden, die teils in einem Zustand waren, daß man wenig entziffern konnte. Im Band sind die Verfahren der Lesbarmachung genauso beschrieben, wie die Forschungen, um welche Verfasser es sich handelt und welches Schicksal er und seine Angehörigen hatten.

Der Zeithistoriker und Holocaust-Forscher Pavel Polian hat die Ausgabe aller in Auschwitz gefundenen schriftlichen Zeugnisse des jüdischen Sonderkommandos erstellt, die hier ins Deutsche übertragen ist. Darunter die handschriftlichen Aufzeichnungen Marcel Nadjaris, die erst 2017 entziffert werden konnten. Alle Dokumente haben die internationale Holocaust-Forschung weitergebracht, weil nicht nur die einzelnen Dokumente untersucht wurden und nach Adressat und Absender erfolgreich bestimmt werden konnten, sondern weil zudem Querverweise auch das System der Handlangerdienste kenntlich machen. Die Holocaustforscher sind sich einig, daß die Forschungsergebnisse viele Unklarheiten klären konnte. Die Dekodierung vieler Texte ist gelungen und unleserliche Stellen mit ungewöhnlichen Methoden lesbar geworden.

Doch das sind die formalen und wissenschaftlichen Hintergründe. Das Eigentliche sind die Briefe und niedergelegten Schriften selbst. Sie zu lesen heißt, sich in das Innerste des Grauens zu begeben, aber eben auch die Hoffnung zu erleben, die einzelne Häftlinge mit dem Weiterleben ihrer Liebsten verbinden, auch wenn sie selbst vom eigenen Tod überzeugt sind. Muß man noch etwas hinzufügen, wenn einer schreibt: „Die Hölle von Dante ist unwahrscheinlich lächerlich im Vergleich zur echten Hölle hier“.

Dem kann man nicht widersprechen.

Über den Autor
Pavel Markovich Polian ist 1952 in Moskau geboren. Er ist habilitierter Professor, Zeithistoriker, Kulturgeograph und – unter dem Pseudonym Pavel Nerler – Literaturwissenschaftler. Er ist Verfasser und Herausgeber zahlreicher Bücher zur Geschichte des II. Weltkrieges – genauer zu Holocaust, Zwangsarbeit und Kriegsgefangenschaft, Bevölkerungs- und Migrationsgeographie sowie zur russischen Poesie des 20. Jahrhunderts. Zuletzt erschien auf Deutsch »Ossip Mandelstam’s letzte Jahre«. Er ist langjähriger Mitarbeiter der Russischen Akademie der Wissenschaften und der Universität Freiburg, Gründer und Vorsitzender der Mandelstam-Gesellschaft und z.Z. Direktor des Mandelstam-Zentrums bei der Nationalen Forschungsuniversität Hochschule für Wirtschaft in Moskau. Er lebt mit seiner Frau seit 1991 in Freiburg.

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Info:
Pavel Polian
»Briefe aus der Hölle. Die Aufzeichnung des jüdischen Sonderkommandos Auschwitz«
Aus dem Russischen von Roman Richter; bearbeitet von Andreas Kilian. 632 S. mit 7 sw-Abb., 4 Tab. und 4 Karten, Bibliogr. und Reg., 15,5 x 23 cm, geb. mit SU.

Wbg Theiss.
632 Seiten.
Preis: 48,00 Euro (D).
ISBN: 978-3-8062-3916-4.
Darmstadt.