kpm Vollverschleierte FrauenDie Grünen verhindern ein Vollverschleierungsverbot an Hochschulen in Schleswig-Holstein

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die Fraktion der Grünen im Kieler Landtag lehnt ein Verbot der Vollverschleierung einstimmig ab.

Die Partei verweist dabei auf die Religionsfreiheit im Grundgesetz. Eine weltoffene und rechtsstaatliche Gesellschaft zeichne sich auch dadurch aus, dass religiöse Symbole getragen oder auf sie verzichtet werden könne, sagte deren Landesvorsitzende Ann-Kathrin Tranziska. Dennoch dürfte der Streit in der Jamaika-Koalition über das Thema, der seit Februar 2019 schwelt, weitergehen. Die Koalitionspartner CDU und FDP bleiben bei ihren Forderungen nach der Verankerung eines Vollverschleierungsverbots im Hochschulgesetz.

Hintergrund ist der Fall einer muslimischen Studentin der Kieler Christian-Albrechts-Universität. Die Hochschule hatte ihr eine Vollverschleierung in Lehrveranstaltungen verboten. Sie kam trotzdem immer wieder in einen Nikab verhüllt zu den Vorlesungen. Zudem kündigte sie im Frühjahr 2019 an, sich juristisch gegen ihren Ausschluss wehren zu wollen. Denn die Uni hatte das Land gebeten, eine Regelung zu schaffen, die ein Verbot möglich machen würde.
Rechtliche Hilfe holte sich die Studierende von der „Föderalen Islamischen Union“ (FIU) in Hannover. Der niedersächsische Verfassungsschutz stuft diese als salafistischen Zusammenschluss ein.

Verbale Unterstützung erhielten die Grünen von Cornelia Möhring, der frauenpolitischen Sprecherin der Linken im Bundestag, die aus Schleswig-Holstein stammt: „Ein Verbot bestimmter Kleidungsstücke ist ein Eingriff in die Selbstbestimmung der Frau“. Die Äußerung lässt darauf schließen, dass Frau Möhring die diesbezüglichen Schriften von Marx und Engels entweder nicht gelesen oder nicht verstanden hat. Denn der Widerstand gegen religiöses Muckertum, also heuchlerische Frömmigkeit, zählt zu den sozialistischen Grundtugenden.

Allerdings haben offensichtlich auch Teile der SPD massive Probleme mit den Errungenschaften der Aufklärung. „Laizistischer Arbeitskreis in der SPD“ nannte sich eine im Jahr 2011 gegründete Gruppe von Sozialdemokraten, die sich für die strikte Trennung von Staat und Religion einsetzt. Sie will sich auch für die Interessen der Nichtreligiösen in der Partei stark machen. Seit 2015 nennen sie sich „Säkulare Sozialdemokraten“. Im März 2019 wählten sie den Religionswissenschaftler Adrian Gillmann aus Frankfurt am Main und die ehemalige Bundestagsabgeordnete Lale Akgün aus Köln zu ihren Sprechern. Derzeit kämpfen Gillmann und Akgün allerdings weniger für die Interessen der Säkularen in der Gesellschaft, sondern gegen die Widerstände in der eigenen Partei.
Schon 2018 stellten sie den Antrag auf Anerkennung ihrer Gruppe als offizielle Arbeitsgemeinschaft in der SPD. Doch der SPD-Bundesvorstand lehnte ab. Das war und ist schwer nachvollziehbar. Denn der Arbeitskreis der Säkularen Sozialdemokraten, der kein Arbeitskreis sein darf, fordert die Abschaffung der Staatsleistungen an die Kirchen, diskutiert über Konventionen von vorgestern, die sich fest in der Demokratie verbarrikadiert haben. Beispielsweise die Beitreibung der der Kirchensteuer durch den Staat, das absolute Verbot von Sterbehilfe und die religiös begründete Beschneidung von Jungen. Genauso die Unterordnung der Frau im orthodoxen Islam und in der Katholischen Kirche oder die Diffamierung Homosexueller in Christentum, Judentum und im Islam. Dazu Lale Akgün vor einem Jahr: „Zum einen ist es mir wichtig, dass wir das widerspiegeln, was in der Gesellschaft Realität ist. [...] Vor ein paar Wochen ist ja die 40-Prozent-Marke geknackt worden. Das heißt: 40 Prozent der Bevölkerung gehören überhaupt keiner Konfession oder Religionsgemeinschaft mehr an. Das ist eine stattliche Zahl, die sich auch in einer Partei wie der SPD widerspiegeln muss.“
Bei den Grünen gibt es einen solchen Arbeitskreis bereits: Nämlich die „Bundesarbeitsgemeinschaft Säkulare Grüne“. Allerdings scheint ihr Einfluss gering zu sein, wie das Beispiel aus Schleswig-Holstein belegt.

Eine zunehmend säkulare Gesellschaft, in der vor allem fundamentalistische religiöse Gruppen besondere Rechte für sich beanspruchen, muss diesen aufnehmen und den notwendigen Diskurs offen führen. Denn andernfalls überlässt sie das Thema den Rechten, namentlich der AfD.

Sowohl grüne Realitätsverdränger und kleinbürgerliche Sozialdemokraten als auch religiöse Fundamentalisten berufen sich bei ihren Forderungen auf das Grundgesetz. Dieses schützt religiöse Bekenntnisse – allerdings nur bis zu jener Grenze, wo die schützenswerten Überzeugungen Andersdenkender, beispielsweise Religionsloser, beginnen. Diese vermeintlich absolute Religionsfreiheit kollidiert immer häufiger mit dem legitimen Anspruch Andersdenkender, vor allem von liberalen Gläubigen und Gottlosen, im öffentlichen Raum nicht in plakativer Weise mit religiösen Bekundungen konfrontiert und provoziert zu werden.

Religiöse Menschen jeglicher Konfession sollten sich Zurückhaltung bei der öffentlichen Zurschaustellung und Proklamation ihres Glaubens auferlegen. Auch falls sie selbst uneingeschränkt von dessen Inhalten überzeugt sind, werden sie nie einen Wahrheitsbeweis antreten können. Denn die heiligen Schriften der Juden, Christen, Muslime und aller anderen Religionen sind allesamt von Menschen verfasst worden. Diese mögen in besonderer Weise inspiriert gewesen sein. Vielleicht durch ein jahrelanges intensives Nachdenken über den Sinn menschlicher Existenz; vermutlich auch, weil sie dabei an Grenzen gestoßen sein dürften, die sich mit dem Verstand nicht überwinden lassen. Der Ersatz des Verstands durch einen hypothetischen Gott ist jedoch keine Lösung des Erkenntnisproblems. Zudem waren alle schreibenden Zeitzeugen und Propheten immer Kinder ihres jeweiligen Zeitalters. Und sie haben dessen Wertvorstellungen übernommen – und sei es, um diesen ihre eigenen, vermeintlich besseren – entgegen zu stellen.
Religionen können die ethischen Überzeugungen der Menschen positiv beeinflussen und dadurch spirituellen Halt geben.

Beim alttestamentlichen (!) Gebot „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ handelt es sich zweifellos um einen kategorischen Imperativ des Altertums, der für alle Zeiten gültig ist. Manch andere religiöse Regeln hingegen greifen in die Gestaltungsfreiräume so tiefgreifend ein, dass sie den Menschen faktisch für unmündig erklären. Ihr Entstehen war zeitbedingt, die Zeiten jedoch haben sich erheblich verändert. Zu denken ist an Bekleidungs- und Speisevorschriften, an die Stellung der Frau, an die Gleichstellung der Homosexuellen, an sexuelle Moral überhaupt, aber auch an die unkritische Anerkennung weltlicher Herrschaft. Solche Gesetze konservieren lediglich uralte und längst überholte Vorstellungen. Mit der Entwicklung der Menschheit und der Gesellschaft konnten sie nicht Schritt halten. Die europäische Aufklärung hat sich die Auffassungen der Religionskritik, beispielsweise die von Lessing und Reimarus, im Wesentlichen zu eigen gemacht. Die Gesellschaft sollte diese Errungenschaften nicht aufgeben, sondern fortschreiben.

Foto:
Verschleierte Frauen bei einer salafistischen Demonstration in Offenbach
© MRG

Info:
Auszüge aus dem Grundgesetz, die Religion betreffend:
Artikel 4

(Absatz 1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
(Absatz 2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.

Artikel 2

(Absatz 1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

Artikel 3

(Absatz 3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.

Artikel 140

Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.


Weimarer Verfassung Art. 136

(1) Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt.
(2) Der Genuss bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte sowie die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis.
(3) Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren. Die Behörden haben nur soweit das Recht, nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft zu fragen, als davon Rechte und Pflichten abhängen oder eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung dies erfordert.
(4) Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden.

dto, Art. 137

(1) Es besteht keine Staatskirche.