iu9Der Konservatismus ist dreigeteilt – das kennzeichnet seine Misere mehr als die traurige Lage der SPD, die sich ein neoliberales Problem eingehandelt hat

 Heinz Markert

Frankfurt am Main Weltexpresso) - Im Artikel ‚Das geistig-moralische Ende, Konservatismus im Spannungsfeld zwischen CDU und AfD‘ hatte sich Weltexpresso-Kollege Klaus Phillip Mertens Anfang März 2020 um die ganz offenbar prekäre Verfassung des Konservatismus Gedanken gemacht. Dazu hatte ich auch schon mal Langfristiges gespeichert.


Dass der Konservativismus ein widersprüchliches Doppel- bzw. Dreifachgesicht hat, war mir in den neunziger Jahren zu Bewusstsein gelangt. Am dreigespaltenen Wesen des Konservatismus ändert sich nichts. Mit der Zeit erscheint die Sache etwas klarer. Die SPD hat aus ihrer Geschichte heraus die besseren Voraussetzungen für eine humane und die natürliche Umwelt bewahrende Gestaltung der Welt als der Konservativismus der inneren Widersprüchlichkeit, sofern sie sich auf ihre philosophischen Wurzeln rückbesinnt.
 

Konservativismus
 
1. Die Bismarck-Fraktion 
(bewahrend-retardierend)
 
Der patriarchalisch-autoritäre Konservativismus
 
Er will vormundschaftlich regeln und steuern. Er möchte Dämme erhalten und aufstemmen gegen die kommerzielle, erwerbsmäßig ausgerichtete Massenkultur und die mit ihr verbundenen ‚Auflösungserscheinungen‘ der traditionellen Lebensmodelle.
 
Auch das kapitalistische Unternehmertum ist diesem Konservativismus eines Hausherrn nicht ausreichend genug standesgemäße Elite. Durch Prägung und Lenkung des jungen Menschen, durch eine gängelnd vormundschaftlich-fürsorgliche Ausrichtung will er Altbewährtes streng bewahren: das Patriarchalische und Familiäre, das Hierarchische und Privilegienmäßige, das Persönlich-Bindungsmäßige, das Sakrale. Er bedient sich ggf. der Blut- und Eisenmacht.


2. Die Thatcher-Fraktion
(entgrenzend)
 
Der progressiv-dynamisch-technokratische Konservativismus
 
Diese Fraktion ist (neo-) (sozial-) darwinistisch (wie die FDP). Sie kalkuliert mit der Eliminierung der sogenannten Schwachen und ‚weniger Fitten‘. Die Spreizung des Sozialgefüges in Oben und Unten, Arm und Reich, weltbestimmend oder dem Weltzustand ausgeliefert, erscheint ihr als naturgesetzlich. Sie ist auslese-radikal. Eine menschliche Kultur der Achtsamkeit ist ihr kein Thema, ja sogar ein Gräuel. Bildung ist nicht als Menschenbildung auf dem Weg zur Humanisierung der Gesellschaft gedacht, sondern als Konditionierung des Menschen für die Kapitalverwertung. Bildungsungleichheit ist einkalkuliert. Schulen dürfen verfallen. Die eigenen Söhne kommen schon damit klar. Integrativer Unterricht ist als Frevel geschmäht und wird verfolgt, ähnlich wie andererseits der Teufel das Weihwasser scheut.
 
Zum kuriosen Anlass für die Umprägung des Konservativismus wurde seit den späten Siebziger Jahren der hereinbrechende nicht-konservative Neoliberalismus, zu dem sich nicht nur die freien Radikalen eines Otto Graf Lambsdorff (mit den Julis), sondern auch eine wirtschaftsliberale Abspaltung des Konservativismus hat hinreißen lassen. Damit hat auch dieser die Bedingung für die eigene Untergrabung gelegt wie sein als sozial gekennzeichnetes Gegenüber, die SPD.
 
Wesenskern des Konservativismus
 
Er verdichtet sich in der Parole: ‚Der Zweck heiligt die Mittel‘, ‚Wo gehobelt wird, fallen Späne‘. Der Mensch hat vornehmlich für die Kapitalverwertung stramm zu stehen. Zum allzeitbereiten konservativen Reflex gehört, dass es dem Untertanen als Nachfahren der preußischen Obrigkeitsstaatskultur nicht zu wohl werden soll. Er muss kurz und knapp gehalten, wo nicht gequält und gepiesackt werden. Der Volksschullehrer der Nachkriegsära war der Exekutor der groben Sprüche im Vollzug an Kindern. Mit Hartz IV und Agenda 2010 lebte diese Methode als Bürokratie- und Überwachungsmonster wieder auf.


3. Der Edel-Konservative
(schwankend zwischen Revolution und Restauration, bzw. Resignation)
 
Die ästhetisierende Fraktion des Konservativismus
 
Eine Variante der Konservativen Wende und wenn nötig auch Revolution. Das feine Schweigen zu Unrecht und Entrechtung. Nicht so genau hinschauen brauchen. Lieber den Blick abwenden dürfen, wenn Unrecht am Laufen ist. An die Aufarbeitung des Nationalsozialismus wurde nur widerwillig herangegangen. Viele gaben an, von nichts gewusst zu haben. Manche meinten, alles wäre ja gar nicht so schlimm gewesen, wenn ‚das mit den Juden‘ nicht gewesen wäre. Die CDU lehnt die gesetzliche Verankerung von Kinderrechten und die gesetzlich verankerte Geschlechtergleichstellung in der politischen Repräsentation ab. Sie hat in der Regel null Empathie für vertriebene und unbehauste Flüchtlinge.

Des Bürgers scheuer Abzweig aus der heillosen Welt ist der gepflegte Rückzug ins kulturell Ästhetische. Elitäres Denken und aufwendig standesgemäße Lebensart als Kompensation für Macht- und Einflusslosigkeit angesichts der Welt großer ökonomischen Machtgebilde, denen unterwürfig und vorauseilend gedient und entsprochen wird, ohne genauer hinzuschauen, was die so treiben. Der feinsinnige Bildungsbürger ließ 1933 die Barbaren für sich marschieren, während er seinen Beethoven genoss. Sie sollten auch seine Interessen sichern. Auf einen Aufschlag wurde spekuliert. Zumindest indirekt war dieser Typus ein Steigbügelhalter Hitlers, hat diesem Stichworte geliefert.
 
Der aktuelle (Neo-) Konservativismus ist indifferent und gespalten. Er hat ein technokratisch-progressives und ein sozial-ethisch wie emanzipatorisch retardierendes, ggf. auch regressives Gesicht. Das regressive Moment kann nach weit rechts driften. Der aktuelle Konservativismus befindet sich in einer Klemme, weil die Gesellschaft sich ausdifferenziert, vervielfältigt und kulturell bereichert. Er verliert Tag für Tag seine Grundlage. Die ins Zentrum gerückte endzeitlich gestimmte Ökologie wird notgedrungen und widerwillig zur auferlegten erweiterten Gesetzestafel. Schwieriges Hauptproblem für den steuernden Bürger: Auto vermeiden.

 
Kulturelle Verunsicherung
 
Die Konservativen sind die politisch-kulturell am meisten verunsicherte Abteilung des Gemeinwesens. Davon zeugt eine von Friedrich Merz aufgebrachte und noch lang nicht beendete Leitkulturdebatte.
 
Sie wird vor dem Hintergrund der Diffamierungskampagne der frühen Bundesrepublik gegen die Sozialdemokratie verständlicher, die einerseits in der billigen Anschuldigung gipfelte, SPDler seien vaterlandslose Gesellen und alle ihre Wege führten nach Moskau. Zum anderen wurde gegen Willy Brandt eine miese Sottise aufgebracht, weil er sich dem mörderischen Zugriffs Hitlers nach Skandinavien entzogen hatte, was ihm den Vorwurf des Vaterlandsverräters eintrug. Wobei Adenauer ihn noch extra unter der Gürtellinie traf, indem er Brandt den Makel der unehelichen Geburt anheftete („Ein gewisser Herr Frahm“).
 
Noch gilt: Laptop und Lederhose, ´Leitkultur‘ contra globale Vielfalt. Es besteht im Konservativismus ein nicht erhellter Konflikt zwischen (dynamischem) Weltbezug und (widersprüchlicher) Emotion der Innenwelt, zwischen (innerer) Basis und Überbau – dieser zu verstehen als Welt neuer Dinge und sich verändernder Beziehungsformen. Das verunsicherte Innenleben neigt zur Wagenburgmentalität und sympathisiert ggf. mit Ausfällen ins Gewaltsame, Repressive, besonders um die angeblich durch Geburt verbürgten Besitzstände zu wahren, während für die Mehrheit die Schwarze Null gilt, das Steckenpferd des heutigen Konservativismus.

Das Geheimnis des Konservativismus ist der Materialismus des Besitzes für das einzige Erdenleben. Die eigene Lebensspanne wird gegen das Gattungsinteresse ausgespielt, wie beim Konsumenten.
 
Wie die AfD würde die CDU gerne den zivilgesellschaftlichen Organisationen und Umweltverbänden wie den Vereinen des kritischen Gemeinwesens das Wasser abgraben, indem sie ihnen das Klagerecht bestreitet und die Gemeinnützigkeit abspricht, um sie zu beschneiden. Das zeugt von antidemokratischem Ungeist. Höcke kündigte an, die gesamte Zivilgesellschaft auszutrocknen.
 
(muss immer fortgeschrieben werden)

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© marcbernhard.de