Bildschirmfoto 2020 04 06 um 00.48.28Interview mit dem Präsidenten der orthodoxen jüdischen Gemeinde Agudas Achim in Zürich

Ives Kugelmann

Zürich (Weltexpresso) - David Bollag ist Präsident der orthodoxen jüdischen Gemeinde Agudas Achim in Zürich. Im Gespräch nimmt er Stellung zur aktuellen Situation bei den Charedim im Zusammenhang mit dem Corona-Virus. (Weltexpresso hatte über  die Situation berichtet, daß in Israel, aber auch sonst auf der Welt, die Orthodoxen die höchsten  Infektionsraten haben:   https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/18875-weshalb-erkranken-so-viele-juden-an-covid-19)


tachles: Die orthodoxen jüdischen Gemeinden sind innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in der Schweiz am stärksten vom Corona-Virus betroffen. Wie ist die Situation?

David Bollag: Wir hatten und haben rund 17 infizierte Mitglieder in den beiden charedischen Gemeinden Zürichs. Die meisten sind genesen oder auf dem Weg der Besserung. Soweit ich weiss, hatten wir bisher keine schweren oder hospitalisierten Fälle. Wir haben aber Angehörige respektive Gemeindemitglieder im Ausland, die schwerer betroffen sind.


Letzte Woche sind einige Talmudschüler aus England zurückgekehrt, die sich nun in Quarantäne befinden.


Richtig. Das war eine Vorsichtsmassnahme.


Sie haben zusammen mit der Israelitischen Religionsgemeinschaft Zürich eine Taskforce gegründet. Was tut diese?

In erster Linie führen wir eine Liste infizierter Mitglieder und publizieren diese jeweils nach dem Einverständnis der Betroffenen. Damit stellen wir sicher, dass andere Mitglieder in Quarantäne gehen können gemäß den Vorgaben des Bundesamts für Gesundheit (BAG). Außerdem werden Hilfeleistungen offeriert oder Essenspakete koordiniert.



Weltweit stehen die charedischen Gemeinden in diesen Tagen in der Kritik, die Vorgaben von Regierungen und Behörden nicht einzuhalten.


In Zürich haben wir definitiv keine solche Situation. Mit dem Versammlungsverbot der Regierung haben wir Gottesdienste untersagt. Die Rabbiner haben außerdem dazu aufgefordert, die Vorgaben zu respektieren. Inzwischen haben wir auch Gemeinden und Synagogen geschlossen, so dass Lernen oder Einzelgebete nur noch privat möglich sind, was ja erlaubt ist.


Anscheinend kam das zu spät. Die Zürcher Kreispolizei musste intervenieren.

Das stimmt so nicht. Es stellte sich heraus, dass keine Vorgaben missachtet wurden. Der Chef des Kreises 3 hat mir persönlich attestiert, dass er mit der Umsetzung der BAG-Beschlüsse in unseren Kreisen zufrieden ist.


Weltweit sind die orthodoxen Gemeinschaften stärker vom Corona-Virus betroffen als andere. Sie sagen, dass die Vorgaben eingehalten werden. Gibt es da nicht einen Widerspruch?

Das eine schliesst das andere nicht aus – und doch liegt ein Teil der Antwort in der Natur der Sache. Wir respektieren die Vorgaben zu 100 Prozent. Demgegenüber sieht unser Alltag jedoch so aus, dass sich die Menschen dreimal täglich zum Gebet treffen und sehr gemeinschaftlich leben. Es stimmt, dass orthodoxe Juden mehr betroffen sind. Aber nicht, weil sie Regeln verletzt haben, sondern aufgrund ihrer Lebensrealität. Ich kann Ihnen zugleich garantieren, dass wir uns in Zürich an die Vorgaben halten. Dass jemand ausschert, kann überall vorkommen. Wir tolerieren das aber nicht.


Wie erklären Sie sich die hohe Ansteckungszahl denn konkret?

Ja, wir haben eine hohe Ansteckungszahl in den orthodoxen Gemeinden, besonders auch in England und den USA. Verantwortlich dafür sind dort aber die Regierungen Trump und Johnson, die die Gefahr über Wochen bagatellisiert haben. Als es noch erlaubt war, haben sich die Charedim natürlich getroffen und gefeiert. Namentlich zu Purim. Niemand hat die Aussagen der Regierung hinterfragt, und Versammlungen waren damals absolut erlaubt und normal. Das war eine Virenschleuder.


Inzwischen gibt es aber auch in den USA und England Restriktionen. Dennoch kam es noch bis vor wenigen Tagen zu großen Feiern oder Beerdigungen mit hunderten von Teilnehmern.

In Zürich war das sicherlich nicht der Fall. Dort, wo es der Fall war, ist das sicher nicht in Ordnung und widerspricht auch unserer Auffassung im Umgang mit der Gefahr und dem Lebensrisiko.


Viele Mitglieder reagierten schockiert auf das Gottesdienstverbot. Wie konnten Sie sie von der Richtigkeit der Entscheidung überzeugen?

Es ist für uns natürlich eine Tragödie, dass wir eine Synagoge schließen müssen. Das ist sicher für jede Gemeinde so. Allerdings muss ich festhalten, dass wir einen Gott haben, der generell vorgibt, dass wir mit minjan dawenen. Es gibt Zeiten, in denen er vorgibt, dass wir alleine beten sollen. In einer solchen befinden wir uns gerade.


Und wie gehen Sie persönlich damit um?

Wir müssen aus der Not eine Tugend machen. Alleine beten erfahre ich im Moment auch als Bereicherung: Ich habe mehr Zeit, weniger Hektik und mehr Einkehr. Vielleicht wollte uns Gott lehren, diesen direkten, ungestörten Dialog zu führen, ohne Geschwätz und Ablenkung. Ich kann dem also auch durchaus Positives abgewinnen.


Pessach und der Seder stehen uns bevor. Viele Menschen werden nun einsam und alleine feiern, Fremde werden nicht eingeladen, Generationen getrennt sein.

Wir versuchen die Mitglieder zu unterstützen mit Essen, mit Geschirreinkauf. Viele haben ja noch nie einen Seder zu Hause in Zürich durchgeführt und müssen sich nun einrichten. Raw Hersch Meilech Padwa, der seit dem Ableben von Rabbiner Schoul Breish s. A. die Gemeinde interimistisch führt, bereitet die Gemeindemitglieder per Videoschiurim bestens vor.


Finden noch Schiurim im Kolel oder im Cheder statt ?

Nein. Die meisten lernen über Telefon, Zoom etc. Ein paar wenige zu zweit zu Hause, selbstverständlich mit Social Distancing.


Gibt es im Hinblick auf Pessach halachische Erleichterungen etwa im Bereich Kaschrut?

Für Pessach sehen wir generell keine Erleichterungen vor. Es gibt eventuell ein paar Erleichterungen für den Chomez-Verkauf. Das müsste das Rabbinat entscheiden. Aber insgesamt werden wir Pessach ganz regulär durchführen.


Und wie steht es mit möglichen Beerdigungen?

Wenn es, Gott behüte, zu einer Lewaja kommen sollte, dann bedauere ich das sehr. Wir würden eine solche mit minjan draussen und der Respektierung von Social-Distancing-Vorgaben durchführen.


Bedeutet die Situation für Sie eine Konzession an die Vorgaben des Rechtsstaates zulasten der Religion?

Im Gegenteil, die Religion gebietet uns, Menschenleben zu schützen und zu retten. Daher sind lebensrettende Massnahmen für uns in erster Linie durch die Halacha geboten. Wir haben rasch aus den Erfahrungen im Ausland gelernt. Es ist also ein Gebot der Stunde. Das sehen auch die grossen Gelehrten so. Reb Chaim Kanievsky schlite, einer der grössten rabbinischen Kapazitäten in Israel, hat klar gesagt, dass nicht im minjan gebetet werden darf und dass Menschen denunziert werden dürfen, die sich nicht an die Vorgaben halten.


Sie haben nun in den Tagen des Brauches von «kimche de pische» mehr Geld als sonst gesammelt. Können Sie in den kommenden Wochen allen sozialen Forderungen gerecht werden?

Hoffentlich, wir versuchen es wenigstens. Wir haben in dieser Woche doppelt so viel wie in anderen Jahren an die Armen im Sinne der Soforthilfe vor Pessach verteilt. Der Rest wird im Moment durch den Bundesrat garantiert, dessen Hilfsmassnahmen wir sehr begrüssen. In der Gemeinde mussten wir zum Beispiel in gewissen Bereichen Kurzarbeit eingeben.


Letzte Woche haben jüdische Gemeinden einen Jom Kippur katan und das Tehilim-Sagen durchgeführt.

Ja. Im Moment sagen wir täglich nach jedem Gebet Tehilim, und zwar Psalmen, die Kapitel 20, 121, 142.


Wie sieht ihr persönlicher Alltag aus?

Ich arbeite von zu Hause aus. Wir leben isoliert. Ich gehe nur mit Mundschutz und Handschuhen aus dem Haus.


Foto:
Seit Sonntag ist die Synagoge der Agudas Achim Zürich auch für einzelne Besucher nicht mehr zugänglich.
© tachles

Info: 
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 3. April 2020