Bildschirmfoto 2020 05 09 um 22.42.59Queres aus der Quarantäne, 12. und letzter Teil
 
Thorsten Latzel

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die kollektive Quarantäne geht zu Ende. Schulen, Kitas, Betriebe, Kultureinrichtungen, Sportvereine fahren ihren Betrieb wieder hoch. Mit einer Mischung von „Endlich!“ und „Hoffentlich geht‘s gut!“

Die kollektive Auszeit war für viele Menschen ökonomisch, psychisch, familiär z.T. extrem belastend. Manche Auswirkungen von Vereinsamung, Vernachlässigung oder Gewalt werden erst jetzt nach und nach sichtbar werden. Doch wir haben es in einem Akt kollektiver Solidarität tatsächlich geschafft: „Flatten the curve!“ Extremsituationen wie in Bergamo oder Probleme der Triage blieben uns - Gott sei Dank! - erspart. Ein wirklicher Zwischenerfolg. Trotz der bis Anfang Mai schon über 7.000 Toten. Jede und jeder von ihnen einzeln und persönlich zu beklagen.

Die Spielregeln in den letzten Wochen waren belastend, aber weitgehend einheitlich und klar. Jetzt beginnt eine Phase stärkerer Eigenverantwortung: in Landkreisen, in Einrichtungen, in Familien. Das ist gut so. Und es stellt eine echte Herausforderung dar. Weil von meinem Umgang mit der Freiheit der Erhalt der Freiheit anderer abhängt. Und weiter auch deren Gesundheit und Leben. Wir wissen ja, dass das Virus weiter da ist, dass es zweite und dritte Infektionswellen geben wird, dass bis zu einem wirksamen Impfstoff das Leben nicht mehr so wie vorher funktionieren kann. „Zugemutete, verantwortete Freiheit“: Darum geht es im Leben allgemein, in Pandemie-Zeiten in besonderer Weise. Und damit zugleich auch immer um das, was früher mit dem alten, religiösen Begriff der „Versuchung“ beschrieben wurde: die Gefahr, meine Freiheit verlieren zu können, indem ich sie nicht richtig gebrauche. Diese Gefahr des Scheiterns ist unvermeidlich, sonst wäre Freiheit keine Freiheit. Sie ist der Preis der Eigenverantwortung. Keine Freiheit ohne Versuchung.

Die Frage der Versuchung ist anknüpfend an die entsprechende Vater-Unser-Bitte in den letzten Jahren theologisch verstärkt diskutiert worden. Papst Franziskus hat Kritik an der Übersetzung „und führe uns nicht in Versuchung“, geübt: Ein Vater tue so etwas nicht, er stelle seinen Kindern keine Fallen. Daran anschließend haben die Katholischen Kirchen in Frankreich und Italien - anders als die Deutsche Bischofskonferenz - die Übersetzung geändert in: „Lass uns nicht in Versuchung geraten.“ Ich halte das in mehrfacher Hinsicht für problematisch. Der neutestamentliche Urtext des Vaterunsers gibt dies nicht her, weder in Matthäus 6,13 noch in Lukas 11,4. Auch entspricht es nicht den biblischen Vorstellungen von Gott. Er wird von den Glaubenden eben auch erfahren als ein Flussdämon, der einen des Nachts anspringt und mit einem kämpft wie mit Jakob am Jabbok (1. Mose 32,32-33). In der Erzählung des Hiob-Buches ist Gott es, der es zulässt, dass Hiob vom „Satan“ als eine Art himmlischer Staatsanwalt bis auf Haut und Knochen versucht wird. „Du gabst uns einen Wein zu trinken, dass wir taumelten.“ (Psalm 60,5) Und auch in der Geschichte Jesu Christi spielt die Versuchung eine zentrale Rolle. Am Anfang seines Weges, gleich nach seiner Taufe durch Johannes, wird er vom Geist Gottes in die Wüste geführt, „damit er vom Teufel versucht würde“ (Matt 4,1). Immer wieder kommen Versuchungen vor, etwa durch Petrus, der ihn vor seinem Leiden bewahren will (Matt 16,23). Bis hin zu seinem Ende mit der Anfechtung im Garten Gethsemane, in der er eben Gott bittet, den Kelch an ihm vorüber ziehen zu lassen, was nicht geschieht. Bis hin zum Schrei der Gottverlassenheit, mit dem Jesus als Christus am Ende stirbt. Nein, der biblische Gott führt sehr wohl in Versuchung. Und es wäre m.E. auch theologisch eine hochproblematische Verharmlosung, wollte man Gott als einen „lieben Vater“ da heraushalten. Versuchung hat dabei überhaupt nichts, wie Papst Franziskus meint, mit heimtückischem Fallenstellen oder irgendeiner Form von Missgunst zu tun. Vielmehr steht in der Situation von Anfechtung und Versuchung etwas anderes auf dem Spiel.

Es geht darum, wer wir als Menschen sind - und darum, wer Gott ist. Man kann sich diesen Gedanken an der Vorstellung einer „existentiellen Prüfung“ klarmachen. Erst wenn ich an meine Grenzen gerate, herausgefordert, „versucht“ bin, entscheidet sich, wer ich bin, wie ich mich verhalte, für welche der Möglichkeiten von mir ich mich entscheide. Ein egoistisch hamsternder „Covid-Wolf“, der in der Pandemie nur an sich selber denkt. Oder jemand, der anderen hilft und für sie da ist, auch wenn es ihn etwas kostet. Oder irgendetwas dazwischen. Im Unterschied zu sportlichen Herausforderungen oder Life-Style-Phänomenen (wie einer Ice-Bucket-Challenge) geht es dabei um eine existentielle Tiefendimension. Es geht um mich selbst, nicht nur um eine einzelne Leistung. Deswegen ist die Versuchung auch nichts, was sich ein Mensch freiwillig wünschen oder wählen würde - wie etwa eine Pandemie. Weil es den existentiellen Ernstfall darstellt, mit der Möglichkeit, sich selbst radikal zu verfehlen. Deshalb die Bitte „und führe uns nicht in Versuchung“, auch wenn die Versuchung nicht zu vermeiden sein wird. Nicht in einem Leben, das wirklich von Freiheit bestimmt ist. Daher gehört paradoxer Weise auch die andere Seite zu dieser Bitte dazu: sich wie Jesus vom Geist Gottes in die Versuchung führen zu lassen. In der Hoffnung darauf, dass Christus genau dort an unserer Seite ist.

In der Wüste waren es drei Versuchungen, denen Jesus als Christus widerstand: die mirakulöse Verwandlung von Steinen zu Brot, das religiöse Niederfallen für alle Macht auf Erden, der enthusiastische Sprung von den Zinnen des Tempels (in verschiedener Reihenfolge in Lukas 4 und Matthäus 4). Bemerkenswerter Weise argumentiert der Teufel dabei exegetisch geschickt mit Bibelstellen. Es entscheidet sich bei der Versuchung mithin nicht nur, wer der Mensch ist, sondern wer Gott ist. Gott selbst steht in der Versuchung auf dem Spiel. Ob Gott eine supranaturalistische Wundermacht ist, der Legitimationsgrund irdischer Herrschaft oder eine numinose Sphäre, zugänglich für religiös entrückte Meister. All dies sind irregeleitete Vorstellungen von Gott und vom Menschen, die in der Geschichte immer wieder von Bedeutung gewesen sind. Bis hin zu den verqueren Vorstellungen populistischer Politiker in der Pandemie. „I’m not a doctor, but ...“. Jesus entscheidet sich in der Wüste für den Glauben an einen Gott, der sich auf die Seite der Schwachen stellt, der sich selbst seiner Macht entäußert, der sich aus Liebe für andere hingibt, nicht für einen selbstbezogenen Sprung vom Tempel. Und weil Gott das Geschehen der sich selbst entäußernden, allumfassender Liebe ist, ist es wichtig, wie wir uns in der Versuchung entscheiden. Oder wir uns von Brot, Herrschaft und Ekstase verleiten lassen. Ob wir dieser Liebe in uns selbst Raum geben, uns von ihr bestimmen lassen.

Die neue Freiheit in der Pandemie ist m.E. nur um diesen Preis zu haben: das Risiko, sie zu verfehlen. Und darin zugleich mich selbst und auch Gott. Keine Freiheit ohne Versuchung. Es ist keine Alternative, die Quarantäne einfach immer weiterführen zu wollen. Diese epidemiologische Sicherheit wäre eine gesellschaftliche Katastrophe. Zugleich ist es wichtig, dass wir alles daransetzen, das Leben anderer zu schützen, als wäre es unser eigenes. Denn es geht in meinem Umgang mit dem anderen immer auch darum, wer ich selbst bin und darum, wer Gott für mich ist. In der Pandemie wie im Leben allgemein.

„und führe uns (nicht) in Versuchung“

Nein, Gott, ich will sie nicht,
die Wüste, in der mir das Brot fehlt,
doch wenn sie kommt, gib mir die Kraft,
für Brot nicht alles zu tun.

Nein, Gott, ich will sie nicht,
die Stelle am Abgrund, ein Schritt vor dem Fall,
doch wenn sie kommt, gib mir den Halt,
weiter für andere dazusein.

Nein, Gott, ich will sie nicht,
die Möglichkeit zum Beugen korrupter Knie
doch wenn die Verlockung kommt
gib mir den Mut zu widerstehen.

Und wenn ich versage, Gott,
bleib auch dann an meiner Seite
wie ich an der anderer. (TL)

Ab dem 16. Mai wird die Reihe der Theologischen Impulse fortgesetzt.

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